1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Patentanmeldung Nr. 20080009467
Als Erstes fand ich diese hochaktuelle Patentanmeldung aus dem Jahre 2008, eine Erweiterung der ursprünglich von Dr. Samuel Henderson, Forschungsleiter bei Accera, im Mai 2000 eingereichten Anmeldung. Der 75-seitige Ausdruck enthielt unter anderem eine gut geschriebene Zusammenfassung der damals bekannten Fakten über Alzheimer in Bezug zur vorliegenden Erfindung. Es war von Beta-Amyloid-Plaques und von Neurofibrillen (Alzheimerfibrillen) die Rede, aber auch von einem Problem mit dem Glukosetransport in die Neuronen. Die Forscher hatten entdeckt, dass Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen bei Alzheimer Zucker nicht verwerten können und dass dasselbe Problem auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson, Huntington und ALS (amyotrophische Lateralsklerose) auftritt, jedoch in unterschiedlichen Teilen des Gehirns.
Da „klingelte“ es bei mir, denn ich war kurz vorher auf eine Forschungsarbeit von Dr. William Klein und anderen (Klein, 2008) über das Problem des Glukosetransports bei Alzheimerpatienten gestoßen. Die Forscher beschrieben ein Problem mit der Lokalisation der Insulinrezeptoren, die sich normalerweise auf der Oberfläche der Zellmembran befinden, doch das war bei Alzheimerpatienten nicht der Fall. Das Hormon Insulin wird für den Transport von Glukose in die Zelle benötigt. Es lagert sich an den Rezeptor auf der Zellmembran an und löst eine Kette von Stoffwechselvorgängen aus; dadurch gelangt die Glukose in die Zelle und wird dort schließlich in das Energie spendende Molekül Adenosintriphosphat (ATP) umgewandelt. Ohne ATP kann die Zelle weder funktionieren noch überleben. Manche Wissenschaftler bezeichnen die Alzheimerkrankheit sogar als Diabetes vom Typ 3 (De la Monte, 2005); davon wird in Kapitel 14 die Rede sein.
In der Patentanmeldung wurde dann die „Erfindung“ beschrieben, die auf der bereits vorher bekannten Tatsache beruhte, dass Neuronen außer Glukose auch Ketone oder Ketonkörper als Energielieferanten nutzen können. Ketone werden über einen anderen Mechanismus als die Glukose in die Zellen transportiert und so kann man mit ihnen, wenn sie im Blut zur Verfügung stehen, das Glukose-Insulin-Transportproblem umgehen, sodass die Neuronen und andere Gehirnzellen mit Energie versorgt und auf diesem Weg möglicherweise am Leben erhalten werden.
Der „Reservetreibstoff“ des Körpers
Ketone sind sozusagen ein elementarer Faktor der Evolution des Menschen. Ohne sie hätte unsere Gattung nicht überlebt. Unsere frühen Vorfahren und selbst heute lebende Menschen haben Perioden des Überflusses und der Hungersnöte durchgestanden. Wenn Nahrung vorhanden ist, legen wir Glukosevorräte (aus den aufgenommenen Kohlenhydraten) und Fettspeicher an, die wir dann anzapfen, wenn es nichts zu essen gibt. Ist die Glukose im Körper aufgebraucht (was nach 24 bis 36 Stunden der Fall ist), verbrennt der Körper Fett und setzt Ketone frei (kleine kohlenstoffhaltige
Partikel), die dann dem Gehirn und den anderen Organen als Energiequelle dienen, bis es wieder etwas zu essen gibt. Man nennt diesen Prozess, der die Organe schützt, Ketose.
Heute ist für die meisten von uns das Problem des Wechsels von Überfluss und Hunger kein Thema. Also kreisen auch nicht viele Ketone in unserem Blut, da wir bestens mit Glukose versorgt sind. Das Umschalten des Körpers von Glukose auf Ketone findet noch unter mehreren anderen Bedingungen statt:
Eine Möglichkeit ist eine ketonbildende, extrem fettreiche und protein- sowie kohlenhydratarme Ernährung, die manchmal zur Behandlung bei schwerer kindlicher Epilepsie eingesetzt wird. Die Atkins- und die South-Beach-Diät mit einem geringen Anteil an Kohlenhydraten sind weniger restriktive Formen einer ketogenen Ernährungsweise und können zu einer leichten Ketose führen. Eine diabetische Ketoazidose ist eine ernste Komplikation des Diabetes vom Typ 1, die dann auftritt, wenn der Ketonspiegel gefährlich ansteigt, fünf- bis zehnmal höher, als es während des Hungerns oder im Rahmen einer ketogenen Ernährung der Fall wäre.
Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit, den Gehirnzellen Ketone zur Verfügung zu stellen. Wenn die Nahrung „mittelkettige“ Fettsäuren enthält, werden diese in der Leber teilweise zu Ketonen verstoffwechselt und gelangen in den Blutstrom. Laut einer Studie erhöht sich die Blutzufuhr zum Gehirn während einer Ketose um sage und schreibe 39 Prozent (Hasselbach, 1996). Ketone passieren die Blut-Hirn-Schranke problemlos und können von den Gehirnzellen als Energiequelle verwertet werden. Sie sind stärker wirksam als die gleiche Menge Glukose und bilden fast doppelt so viel ATP in der Zelle. Der Ketonspiegel aufgrund von mittelkettigen Fettsäuren kommt allerdings demjenigen bei einer diabetischen Ketoazidose nicht im entferntesten nahe.
Mittelkettiges Triglyceridöl
Dr. Samuel Henderson, der Entwickler von AC-1202 [das inzwischen unter dem Markennamen Axona bekannt ist, anscheinend aber nur in den USA; Anm. d. Übers.], meldete ein Patent auf ein mittelkettiges Triglyceridöl für Menschen mit Alzheimer an. [Engl.: Medium-Chain Triglyceride Oil = MCT-Öl; es besteht zu 100 Prozent aus mittelkettigen Fettsäuren.] Die Anmeldung stützte sich auf die Forschungsergebnisse der Firma, die zeigten, dass die durch die Aufnahme der mittelkettigen Triglyceride hervorgerufene leichte Ketose die die geistige Leistungsfähigkeit bei einer erheblichen Anzahl von Alzheimerpatienten zu verbessern scheint.
Dr. Henderson und seine Kollegen fanden in Studien mit Menschen, die an Alzheimer und leichten kognitiven Einschränkungen litten, dass die Aufnahme von 20 Gramm (etwa 4 Teelöffel) AC-1202, von dem wir nun wissen, dass es ein MCT-Öl ist, bei fast der Hälfte der Probanden innerhalb von 45 Tagen zu einer deutlichen Verbesserung der Messwerte des ADAS-Cog-Tests im Vergleich zur Placebo-Gruppe führte. Menschen ohne das schädliche ApoE4-Gen, das das Alzheimerrisiko erhöht, erfuhren eine deutlichere Besserung als die Träger dieses Gens. Außerdem stellte sich heraus, dass die Verbesserung umso größer ausfiel, je höher der Spiegel des von den Neuronen hauptsächlich genutzten Ketons war, des Beta-Hydroxybutyrats. Darüber hinaus schienen Menschen, die Alzheimermedikamente einnahmen – Aricept, Namenda, Exelon oder Razadyne (das früher Reminyl hieß und im deutschen Sprachraum immer noch unter diesem Namen vertrieben wird) – ganz besonders von der Einnahme des MCT-Öls zu profitieren; am meisten diejenigen, die mit Razadyne bzw. Reminyl behandelt wurden. Eine Untergruppe verlängerte die Studie mit diesem Medikament über weitere 6 Monate und bei denjenigen, die weiterhin MCT-Öl erhielten, schritt die Krankheit in diesem Zeitraum nur in einem sehr geringen Maße fort.
Ich erfuhr später, das MCT-Öl seit Jahrzehnten frei verkäuflich ist und von Bodybuildern zur Erhöhung der Magermasse eingesetzt wird. Manche Athleten und Fitnessfans nehmen MCT-Öl, um ihr Energieniveau zu erhöhen und die Ausdauer während sehr intensiver sportlicher Betätigung zu steigern. Studien haben außerdem ergeben, dass MCT-Öl das Sättigungsgefühl erhöht und zur Gewichtsabnahme führen kann, wenn es statt anderer Öle genommen wird.
Eine (in Klammern gesetzte) Offenbarung
Als ich die Patentanmeldung las, wusste ich noch nicht, dass viele Naturkostläden MCT-Öl im Sortiment hatten und dass man es auch problemlos online bestellen konnte. Doch ich erinnerte mich genau daran, dass ich es während meiner Ausbildung und in meiner Praxis Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre als Nahrungszusatz bei Frühgeborenen eingesetzt hatte. MCT-Öl wird auch von Säuglingen ohne Verdauungsenzyme leicht resorbiert und wird heute noch auf vielen Neugeborenen-Intensivstationen verwendet (Tantibhehyangkul, 1975). Die ersten Rezepturen für Frühchen wurden vor 30 Jahren entwickelt und seither wird praktisch allen Standardsäuglingsnahrungen MCT-Öl zugegeben.
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