1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Nach einer Anamnese und der Durchsicht seiner Medikamentenliste wurde er zum Mini-Mental-Status-Test in einen anderen Raum gebracht. Das schockierende Ergebnis war, dass sein Wert gegenüber dem letzten Test zwei Monate zuvor weiter abgesunken war. Um an der Studie teilnehmen zu können, brauchte er mindestens 16 Punkte, denn man wollte das Medikament an Menschen mit leichtem bis mittlerem Alzheimer testen. Steve kam nur auf 12 Punkte und wurde abgelehnt, weil das auf ein fortgeschrittenes Stadium hinwies. Dies war für uns beide ein harter Schlag. Der Arzt riet uns, einen neuen Termin zu vereinbaren, bei dem er versuchen konnte, besser abzuschneiden, denn er schien nach allen anderen Kriterien für die Studie geeignet zu sein. Wir waren ziemlich am Boden zerstört und wieder bei null angelangt. Es sah so aus, als würde ich Steve bald ganz an die Krankheit verlieren.
Ein paar Tage später las ich von einer neuen Studie, die mit Semagacestat von der Firma Eli Lilly & Co. gemacht werden sollte. Wieder schien Steve dafür geeignet. Semagacestat ist ein orales Medikament, ein Gamma-Sekretase-Hemmer, der die Substanzen im Blut, die zu Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn werden, vermindern soll. Man wusste nicht, ob das Medikament das wirklich konnte, doch man hoffte, dass sich mit seiner Hilfe weniger Plaques ansammelten. Ein sehr spannender Gesichtspunkt dieser Studie war, dass diejenigen Probanden, die das Placebo erhalten hatten, nach einem Jahr auf das Medikament umgestellt werden sollten. Ich vereinbarte umgehend neue Termine für die Eignungstests der Impfstoff-Studie und der Studie mit dem Eli-Lilly-Medikament.
Einige Tage, bevor wir die im nächsten Kapitel beschriebene Entdeckung machten, kam Steve zum Frühstück in die Küche; er war benommen wie meistens und sprach kaum. Ich stellte eine Schüssel Müsli an seinen Platz, er setzte sich und sagte: „Oh, ich brauche einen Löffel.“ Er drehte sich zum Geschirrschrank um, öffnete die Schublade, suchte und suchte und nahm ein kleines Messer heraus. Dann wandte er sich seinem Müsli zu und sagte wieder: „Oh, ich brauche einen Löffel.“ Das wiederholte sich mehrmals, bis er schließlich einen Löffel hatte. Ich bot ihm meine Hilfe an, doch er sagte: „Nein, ich muss das machen.“ Es ist so viel leichter, diese Dinge für ihn zu erledigen, doch wann immer es möglich ist, versuche ich seine Wünsche zu respektieren und lasse es ihn selbst probieren, egal, wie lange es dauert und wie schmerzlich es ist, dabei zuzusehen. Diese spezielle „Zeitlupen“-Episode blieb mir im Gedächtnis, denn nur ein paar Tage später sollte sich unser Leben so verändern, dass solche Episoden der Vergangenheit angehörten.
KAPITEL 4
Eine zufällige Entdeckung
Völlig unvorhergesehen stieß ich darauf: Am Abend vor dem ersten Eignungstest begann ich darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn Steve für beide Studien geeignet wäre. Für welche sollten wir uns dann entscheiden? Im Internet recherchierte ich nochmals über beide Medikamente, auch ihre potenziellen Risiken und ihren Nutzen. Bei meiner Suche fand ich eine Pressemitteilung über ein drittes, vielversprechendes Medikament namens AC-1202. Die Herstellerfirma, Accera, eine kleine Biotech-Firma, bemühte sich um die Zulassung durch die amerikanische Zulassungsbehörde für Arzneimittel. Sie berichtete, dass AC-1202 bei einer signifikanten (aussagekräftigen) Anzahl von Alzheimerpatienten die Gedächtnisleistung deutlich verbessert habe.
Pressemitteilung:
Alternative Energiequelle für das Gehirn kann die Behandlung von Alzheimer unterstützen
„Die Glukose, also ein Zucker, ist die Hauptenergiequelle für Gehirnzellen. Wissenschaftler haben entdeckt, dass die Glukoseverwertung in bestimmten Gehirnarealen bei Alzheimerpatienten 10 bis 20 Jahre vor dem Auftreten sichtbarer Symptome dramatisch abzusinken beginnt. Der Entzug dieser primären Energiequelle führt zu einer irreparablen Schädigung der Neuronen [Hirnnervenzellen]. Die Ursache für den verminderten Glukosestoffwechsel bleibt unklar.
Wissenschaftler bei Accera haben AC-1202 entwickelt, eine Verbindung, die die ihrer Glukose beraubten Neuronen mit einer alternativen Energiequelle versorgt: Sie ist unter der Bezeichnung ‚Ketonkörper‘ bekannt; diese können auch dann verstoffwechselt werden, wenn das mit Glukose nicht mehr möglich ist. Die Firma Accera geht davon aus, dass eine vermehrte Verfügbarkeit von Ketonkörpern die Probleme mit dem Gedächtnis und andere bei Alzheimer auftretende Funktionsverluste bessert.
Bei der Prophylaxe-Konferenz der amerikanischen Alzheimer-Gesellschaft berichtete Dr. Lauren Costantini, die stellvertretende Leiterin der Abteilung für klinische Entwicklung bei Accera, über die Ergebnisse der Phase IIb einer klinischen, placebokontrollierten Doppelblindstudie mit 152 Probanden, die an leichtem bis mittelschwerem Alzheimer litten. AC-1202 wurde jeden Morgen als Getränk eingenommen (20 g). Die meisten Studienteilnehmer nahmen ihre Alzheimermedikamente wie Acetylcholinesterase-Hemmer weiter, diese Studie maß also die Wirksamkeit von AC-1202 zusätzlich zur bestehenden Therapie.
Die Behandlung dauerte drei Monate, darauf folgte eine 14-tägige Ausschwemmung und eine zusätzliche sechsmonatige Nachsorge, bei der alle Probanden (die placebo- wie auch die mit AC-1202 behandelten Patienten) die Gelegenheit bekamen, AC-1202 im Rahmen einer offenen Folgestudie einzunehmen. Hauptsächlich sollte die Wirkung daran gemessen werden, dass sich der ADAS-Cog-Wert verbesserte (Alzheimer’s Disease Assessment Scale Cognition, eine weitverbreitete kognitive, 75 Punkte umfassende Subskala für die Bewertung von Morbus Alzheimer, die in klinischen Studien zum Testen der geistigen Leistungsfähigkeit eingesetzt wird, um Veränderungen bei den Kernsymptomen der Krankheit festzustellen).
Die Forscher fanden heraus, dass die Probanden, die AC-1202 einnahmen, im Vergleich zur Placebo-Gruppe eine statistisch deutliche Verbesserung zeigten, wobei diejenigen, die nicht Träger der bei der Hälfte aller Alzheimerpatienten vorkommenden E4-Variante des Apolipoprotein-Gens (ApoE4-) waren, am besten ansprachen. Die Wirkung blieb bei diesen Probanden für die Dauer der ursprünglichen Studie erhalten (90 Tage). Im Gegensatz dazu gab es bei den Trägern der E4-Variante des Apo-Gens (ApoE4+) keine Unterschiede zwischen AC-1202 und dem Placebo.
Von den Studienteilnehmern entschieden sich 49 für die offene Folgestudie, 34 davon blieben bis zum Schluss dabei. Nach Auskunft der Forscher zeigte sich bei den Probanden, die 9 Monate lang AC-1202 einnahmen, ein sehr geringes Fortschreiten der Krankheit (mittlere Veränderung beim ADAS-Cog-Wert vom Beginn bis Tag 294 = 0,8).“
Quelle: „A Possible Alzheimer’s Blood Test and Two Trials of Innovative Therapies“ [zu Deutsch etwa: Ein möglicher Bluttest auf Alzheimer und zwei Studien über innovative Therapien], vorgestellt auf der Konferenz der amerikanischen Alzheimer-Gesellschaft zur Demenzprophylaxe im November 2007.
Da wir die Aussage „verbessert das Gedächtnis“ im Zusammenhang mit den bereits bekannten Alzheimermedikamenten nie zu hören bekommen hatten, war ich sehr neugierig, wie diese Behandlung wohl funktionieren würde. Die bis dahin zugelassenen Alzheimermedikamente nahmen bestenfalls für sich in Anspruch, die Verschlechterung der Krankheit zu verzögern. In der Pressemitteilung stand nichts darüber, um welche Art Medikament es sich handelte und wie es wirkte. So machte ich mich im Internet auf die Suche nach AC-1202.
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