Und so geht es mit jedem weiteren Kleidungsstück. Der erste Versuch geht meist daneben, manchmal schafft er es im nächsten Anlauf, manchmal nicht. Ich möchte, dass er so viel wie möglich selbst macht, doch es ist quälend, zusehen zu müssen und nicht einzugreifen, den Prozess nicht zu beschleunigen, vor allem, wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Haus gehen müssen. Auch meine Versuche, ihn zuerst vollständig anzukleiden und dann warten zu lassen, bis ich fertig war, schlugen meist fehl: Wenn ich nach einer kurzen Dusche aus dem Bad kam, konnte es sein, dass er sich wieder vollständig ausgezogen hatte.
Am schlimmsten ist: Steve weiß ganz genau, dass er das alles einmal konnte und jetzt nicht mehr kann. Ich kann nur versuchen, mir vorzustellen, wie demütigend und frustrierend diese Abhängigkeit für jemanden sein muss, der früher so kompetent war.
Mit fortschreitender Krankheit kann die Pflegeperson den Alzheimerkranken nicht mehr sich selbst überlassen, er muss ständig beaufsichtigt werden. Ich versuche ein paar Stunden früher aufzustehen, um ein wenig Zeit für mich zu haben und mehr oder weniger wichtige Dinge zu erledigen, solange mein Mann noch schläft. Denn sobald er die Küche betritt, dreht sich alles nur noch um ihn und seine Bedürfnisse. Ob es darum geht, eine Tasse Kaffee einzuschenken, etwas zu essen zu richten, seine Medikamente zu holen und die richtigen einzunehmen – all das ist zu meiner Aufgabe geworden.
Er möchte mir so gerne helfen, doch er räumt das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, bevor er das saubere ausgeräumt hat, und den Müll kann er auch nur mit meiner Hilfe hinaustragen. Das ist einfacher für mich und er hat dann das Gefühl, dass er etwas tun kann, um mir zu „helfen“.
Im Frühjahr 2008 gestand er mir, dass er sich nicht mehr an Julies Kindheit erinnern konnte; er wusste nicht einmal mehr, dass er ihr Vater ist, obwohl er sich hauptsächlich um sie gekümmert hat, als ich arbeitete. Er würde sie und ihre Schwester, ja selbst mich, in nicht allzu ferner Zukunft wohl nicht mehr erkennen – ein erschreckender Gedanke.
Die Art zu gehen
Steve, der körperlich immer sehr stark gewesen war und zum Ringerteam seiner Schule gehört hatte, stellte im Sommer 2007 fest, dass er nicht mehr schnell laufen konnte. Bis zum Winter 2008 war sein Gang langsam und bedächtig geworden, da er seine Füße höher hob als normal. Eine Krankenschwester sagte, das sei typisch für viele Menschen mit Alzheimer und ein Zeichen dafür, dass der Krankheitsprozess in den Arealen des Gehirns angekommen war, die die Bewegung steuern. Seine „Arbeit“ im Hof verlief in Zeitlupe, ohne Energie, und er brachte kaum etwas zu Ende. Die Wasserschläuche, die er zu „ordnen“ versuchte, lagen auf den Gartenwegen herum, sodass kaum jemand, geschweige denn jemand in seinem Zustand, durchkam.
Pfeifen
Steve hat immer gerne gepfiffen, er hatte ein großes Repertoire und „unterhielt“ sich mit den Vögeln, indem er ihren Gesang nachahmte. Ich wusste, dass es ihm gut ging, wenn er bei der Arbeit pfiff, und das machte mich glücklich.
Mit dem Einsetzen und der Verschlechterung der Alzheimerkrankheit schrumpfte sein Repertoire auf immer dieselben acht Töne, und das machte mich wahnsinnig. Es hörte sich mehr wie ein nervöser Tic an und nicht wie eine fröhliche Melodie. Inzwischen hat er wieder Gefallen an der Musik gefunden und pfeift auch Lieder mit. Wenn er sich schlecht fühlt, hebt die Musik fast immer seine Stimmung.
Der Umgang mit Schuhen
Manche Dinge, die ein Alzheimerpatient tut, wirken lustig und scheinen nicht erklärbar zu sein. Beispielsweise lief Steve ein gutes Jahr lang oft nur mit einem Schuh herum, meist dem linken. Manchmal hatte er auch nur eine Socke und keine Schuhe an. Dafür lagen alle linken Schuhe auf einem Haufen in der Kammer oder neben dem Garagentor, rechte Schuhe waren nicht dabei. Ich machte ihn darauf aufmerksam, aber es interessierte ihn nicht. Also kauften wir vier oder fünf Paar vom gleichen Typ auf einmal, damit wir zwei zusammenpassende Schuhe fanden, wenn wir aus dem Haus gehen mussten. Eine gute Idee? Nein! Und dann war es nicht mehr ganz so lustig, wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt weg mussten und sich trotz der vielen Schuhe kein zusammenpassendes Paar im Haus finden ließ.
Ich löste das Problem, indem ich ihn in die Garage schickte, wo er offenbar beim „Aufräumen“ immer den rechten Schuh und die Socke auszog. Ich sagte, er solle mir jeden Schuh, den er fand, zuwerfen. Danach hatten wir wieder sechs oder sieben Paar und waren eine Zeit lang aus dem Schneider.
Es gibt ein Phänomen, dass Menschen, bei denen die eine Seite des Gehirns stärker atrophiert (verkümmert), der nichtdominanten Seite Seite keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Da Steve Linkshänder ist, ignorierte er seine rechte Seite. Beim letzten MRI war in seinem Gehirn (im Hippocampus und der Amygdala) auf der einen Seite eine stärkere Atrophie zu sehen als auf der anderen Seite. (Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses und ist eines der ersten Areale, die bei Alzheimer beeinträchtigt werden; die Amygdala ist an vielen Gehirnfunktionen beteiligt, unter anderem an den Emotionen, am Lernen und am Gedächtnis.) Ein Arzt erzählte mir von einer Frau, die sich die Lippen nur auf einer Seite schminkte.
Heutzutage hält Steve seine Schuhe die meiste Zeit zusammen und trägt fast immer beide. Doch „perfekt“ ist er nicht. Es kommt vor, dass er verschiedenfarbige Socken und unterschiedliche Schuhe anzieht. Und wenn er zwei Paar Schuhe vor sich stehen hat, vertauscht er sie grundsätzlich untereinander, sodass sie nicht zusammenpassen. Es hilft, wenn er beim Anziehen nur ein Paar zu Auswahl hat.
Dinge auseinandernehmen und die Teile verlieren
Auf Steve passte die Bezeichnung „Tausendsassa“ früher hundertprozentig, denn er konnte immer alles ohne oder mit wenig Anleitung reparieren. Selbst den Computer schraubte er auf, fand meist den Fehler und brachte ihn zu meinem großen Erstaunen wieder zum Laufen. Vor ein paar Jahren wurde das zu einem Problem, denn er konnte zwar nach wie vor Dinge auseinandernehmen, aber wenn er dann abgelenkt wurde, verlegte einzelne Teile unauffindbar.
Als eines Tages ein kleiner Behälter mit Einzelteilen auf geheimnisvolle Weise verschwand, behauptete Steve, er sei „gestohlen“ worden, und ließ sich auch durch mein Argument, ein Dieb würde doch eher etwas Wertvolles mitgehen lassen, nicht davon abbringen. Es ist ein weitverbreitetes Symptom der Alzheimerkrankheit, dass die Betroffenen glauben, Dinge, die sie verlegt haben, seien gestohlen worden. Sie können sich nicht daran erinnern, dass sie sie weggelegt haben, und so scheint es ihnen logischer, dass sie entwendet wurden.
Es konnte auch vorkommen, dass ich die Fassung verlor, wenn Steve wieder einmal etwas zerlegt hatte, die einzelnen Teile an allen möglichen Stellen verstaut hatte und dann nicht mehr fand und wenn ich dann nach der Arbeit meine knapp bemessene Freizeit hungrig und müde mit der Suche nach den Einzelteilen verbringen musste. So machte er es zum Beispiel einmal mit meinem Staubsauger, der mir besonders „teuer“ war.
Ich weiß, dass man ihm dafür keinen Vorwurf machen konnte. Ich habe gehört und gelesen, dass ich die Geduld nicht verlieren darf, aber es gibt eben Zeiten, in denen es mir nicht möglich ist, eine „Heilige“ zu sein, und das war eine solche. Schließlich fand ich – immer noch hungrig – alle Teile wieder und baute den Staubsauger selbst zusammen. Steve konnte sich nicht erinnern, dass er den Auffangbehälter in einem Metallschrank in der Garage verstaut hatte, geschweige denn, warum …
Читать дальше