Dem Gedichtband »Dein Schweigen – meine Stimme« ist auch das folgende Gedicht »Auferstehung« entnommen, in dem Marie Luise Kaschnitz den christlich-theologischen Mythos der »Auferstehung« ganz aus der Jenseitigkeit in die Diesseitigkeit holt (»Nur das Gewohnte ist um uns«; »Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken«), in dem sie aber zugleich eine »geheimnisvolle Ordnung« andeutet, in die unsere Existenz hineingestellt ist. 6
Auferstehung
(Marie Luise Kaschnitz)
Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut
Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.
Zwei Jahre vor ihrem Tod entsteht das Gedicht »Nicht mutig«, veröffentlicht in dem Gedichtband »Zauberspruch« (1972), 7 in dem sie ihre ambivalente Haltung gegenüber der »geheimnisvollen Ordnung« deutlich zum Ausdruck bringt: Die metaphysische Heimstatt, von der oben bei Else Lasker-Schüler die Rede war, wird als das Ergebnis einer Angst vor dem Endgültigen, das der Tod setzt, gedeutet; zugleich aber vermag diese Heimstatt zu trösten und zu beruhigen.
Nicht mutig
(Marie Luise Kaschnitz)
Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig.
Nun gilt meine Aufmerksamkeit der Schriftstellerin Rose Ausländer, einer aus der Bukowina stammenden deutsch- und englischsprachigen Lyrikerin, geboren 1901 in Czernowitz, gestorben 1988 in Düsseldorf. 1921 wanderte sie in die USA aus und erhielt im Jahre 1926 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. 1931 kehrte sie nach Czernowitz zurück. 1937 wurde ihr die US-amerikanische Staatsbürgerschaft wegen dreijähriger Abwesenheit aus den USA aberkannt; somit war eine Rückkehr in die USA unmöglich. Im Jahre 1940 wurde sie in Czernowitz vom sowjetischen Inlandsgeheimdienst verhaftet und für vier Monate interniert. 1941 besetzten die mit Deutschland verbündeten rumänischen Truppen die Stadt; Rose Ausländer musste als Jüdin im Ghetto der Stadt leben und entging der Deportation nur durch den Schutz in einem Kellerversteck. Im Ghetto lernte sie Paul Celan kennen. Rose Ausländer zog 1972 in ein jüdisches Altenheim in Düsseldorf, das sie aufgrund von Pflegebedürftigkeit zwischen 1977 und 1988, ihrem Todesjahr, nicht mehr verließ. Trotz ihrer schweren Erkrankung bewahrte sie sich eine ausgeprägte seelisch-geistige Offenheit für »Neues«, eine ausgeprägte »Liebe zur Welt«. – In dem ersten der beiden nachfolgend angeführten Gedichte (»Noch bist du da«) 8 steht das Auskosten des Augenblicks auch in der Todesahnung im Zentrum; dabei zeigt sich dieses Auskosten zum einen in der fortgesetzten Bindung an die Natur, zum anderen in der Liebe, weiterhin in der »gelebten« Identität (»Sei was du bist«) und schließlich in der »gelebten« Generativität (»Gib was du hast«).
Noch bist du da
(Rose Ausländer)
Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast
In dem zweiten Gedicht (»Wenn ich vergehe«) 9 wird das Motiv der »symbolischen Immortalität«, im Sinne des Fortlebens in anderen Menschen angesprochen. Das »Fortgehen« von der Erde, das »Vergehen« wird schmerzlich antizipiert. Die »Weltkörper« werden sich weiter bewegen; der Tod der eigenen Person ändert daran nichts. Denn die Erde ist »vergesslich«. Das Gedächtnis nahestehender Menschen aber kann vielleicht Trost schenken: wenn diese nämlich die Verstorbene im Gespräch in ihre Mitte nehmen (»Wirst du mein Wort ein Weilchen für mich sprechen?«). Das Motiv der symbolischen Immortalität erweist sich, dies sei hier noch einmal hervorgehoben, in der Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen vielfach als ein zentrales.
Wenn ich vergehe
(Rose Ausländer)
Wenn ich vergehe
wird die Sonne weiter brennen
Die Weltkörper werden sich
bewegen nach ihren Gesetzen
um einen Mittelpunkt
den keiner kennt
Süß duften wird immer
der Flieder
weiße Blitze ausstrahlen der Schnee
Wenn ich fortgehe
von unsrer vergesslichen Erde
wirst du mein Wort
ein Weilchen
für mich sprechen?
Paul Celan (eigentlicher Name: Paul Antschel), im Jahre 1920 als einziger Sohn deutschsprachiger Juden in Czernowitz geboren, gestorben 1970 in Paris, wird als einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts angesehen. Nach dem Abitur beginnt Paul Celan 1938 ein Medizinstudium im französischen Tours, das er jedoch wegen des beginnenden Krieges bald wieder abbrechen muss. Nach Czernowitz zurückgekehrt, entscheidet er sich für ein Romanistikstudium. Paul Celan wird zur Zwangsarbeit verpflichtet; er muss die Deportation seiner Eltern in ein Lager in Transnistrien miterleben. Seine Eltern verlieren im Lager (durch Genickschuss) ihr Leben. Die innere Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen, unter denen der Holocaust ganz entscheidende Bedeutung besaß, bestimmte einen Großteil seiner Literatur; stellvertretend sei hier die »Todesfuge« (mit dem Motiv: »der Tod ist ein Meister aus Deutschland«) genannt, die Paul Celan im Jahre 1952 auf der Tagung der »Gruppe 47« vorträgt. Ab 1962/63 muss er sich mehrfach in psychiatrische Behandlung begeben. Am 20. April 1970 sucht er den Freitod in der Seine. – Das nachfolgend angeführte Gedicht »Ich lotse dich hinter die Welt« stammt aus seinem Nachlass. 10
Ich lotse dich hinter die Welt
(Paul Celan)
Ich lotse dich hinter die Welt,
da bist du bei dir –
unbeirrbar, heiter.
Vermessen die Stare den Tod,
das Schilf winkt dem Stein ab,
Du hast alles für heut Abend.
Mit der Aussage »Ich lotse dich hinter die Welt« wird eine seelisch-geistige Dimension angesprochen, die jenseits aller unmittelbaren Wahrnehmung, jenseits aller unmittelbaren Selbsterfahrung liegt. Die Person wird mehr und mehr in ihr Zentrum, in das Zentrum ihres Selbst geführt. Wenn sie dieses erreicht, dann kann sie nichts mehr »schrecken«, dann entwickelt sie die Haltung einer tiefen Heiterkeit. Zugleich wird deutlich: Dieser Prozess vollzieht sich im Angesicht des Todes, der sehr bewusst antizipiert wird. »Carpe diem«, nutze den Tag, koste den Augenblick aus, so möchte man sagen. Die Antizipation des eigenen Todes birgt auch ein Potenzial: das Potenzial des bewussten Lebens.
3Aus: »Else Lasker-Schüler – Mein blaues Klavier, Gedichte. Adlima – Die grüne Reihe, Band 31«, BookRiX Verlag, München, 2015, S. 11 u. 26.
4Aus: »Else Lasker-Schüler. Sämtliche Gedichte«, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2016, S. 377.
5Aus: »Marie Luise Kaschnitz, Dein Schweigen – meine Stimme, Gedichte 1958-1961«, CLAASSEN VERLAG, 1962, Auszüge der Seiten 14–17, 17–19, 19–22; © mit freundlicher Genehmigung der MLK-Erbengemeinschaft Berlin/München.
6Aus: »Marie Luise Kaschnitz, Dein Schweigen – meine Stimme, Gedichte 1958-1961«, CLAASSEN VERLAG, 1962, Auszug, Seite 13; © mit freundlicher Genehmigung der MLK-Erbengemeinschaft Berlin/München.
7»Nicht mutig«, aus: Marie Luise Kaschnitz, Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band 5: Die Gedichte. © Insel Verlag, Frankfurt am Main 1985. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Insel Verlag Berlin.
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