2.4 Perspektivenwechsel: Beispiele aus der Lyrik
Wie schon zu Beginn des Kapitels angekündigt, möchte ich nun auf einige wenige lyrische Beiträge eingehen, die sich in besonderer Weise eignen, einzelne Aussagen der eben dargestellten theoretisch-konzeptionellen und empirischen Beiträge aus der Perspektive dreier Schriftstellerinnen und eines Schriftstellers zu betrachten. Ich wähle Gedichte aus, deren Gehalt mit Aussagen verwandt ist, die in den Theorien und empirischen Studien getroffen werden, Gedichte der Schriftstellerinnen Else Lasker-Schüler, Marie Luise Kaschnitz und Rose Ausländer sowie des Schriftstellers Paul Celan. Natürlich ließen sich an dieser Stelle ungleich mehr Gedichte und zudem solche auch anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller anführen. Die hier vorgenommene Auswahl ist nicht nur im beschränkten Platz dieses Abschnitts begründet, sondern erklärt sich auch aus der besonderen psychologischen Aussagekraft, die diesen Gedichten – beispielhaft für viele weitere lyrische Werke – zur Vorbereitung auf Sterben und Tod innewohnt. Die nachfolgend angeführten Gedichte weisen zudem einen ganz individuellen Bezug zur persönlichen Biografie ihrer Verfasser auf.
Ich beginne mit drei Gedichten der Schriftstellerin Else Lasker-Schüler, geboren im Jahre 1869 in Wuppertal-Elberfeld, gestorben im Jahre 1945 in Jerusalem. Am 19. April 1933 verließ die Dichterin Deutschland, emigrierte in die Schweiz und ließ sich in Zürich nieder. Im Jahre 1938 wurde ihr die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In den Jahren 1934, 1937 und 1939 reiste sie nach Palästina; von der letzten Reise kehrte sie nicht mehr in die Schweiz zurück; zum einen hinderte sie der Kriegsausbruch daran, zum anderen verweigerten ihr die Schweizer Behörden ein Rückreisevisum. Im Jahre 1927 hatte die Schriftstellerin ihren Sohn Paul durch die Folgen einer Tuberkuloseerkrankung verloren.
Das erste Gedicht, das ich zitiere, trägt den Titel »Mein blaues Klavier« und ist im Jahre 1937 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. Warum führe ich dieses Gedicht an? Es handelt sich in gewisser Hinsicht um ein biografisches Achsengedicht. Zum einen nimmt die Schriftstellerin in diesem einen Rückblick auf ihre persönliche Geschichte vor – das »zu Hause« beschreibt das frühere Zuhause –, zum anderen diente ihr der Titel dieses Gedichts als Titel für den im Jahre 1943 erschienenen Poesieband »Mein blaues Klavier«, ihre letzte Buchveröffentlichung. Die Tatsache, dass dieser bedeutende Poesieband (mit der Widmung: »An meine Freunde«) einen sechs Jahre zuvor gewählten Titel trägt, lässt uns (bei allen »äußeren« Diskontinuitäten) die Kontinuität der Biografie im Lebensrückblick besser verstehen. Zunächst führe ich das Gedicht »Mein blaues Klavier« an und dann das Gedicht »Ich weiß« aus dem Poesieband. 3 Ersteres schildert den Verlust der Heimat, letzteres die Antizipation und innere Vorbereitung auf den Tod.
Mein blaues Klavier
(Else Lasker-Schüler)
Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.
Es spielten Sternenhände vier –
– Die Mondfrau sang im Boote –
Nun tanzen die Ratten im Geklirr.
Zerbrochen ist die Klaviatür…
Ich beweine die blaue Tote.
Ach liebe Engel öffnet mir –
Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür –
Auch wider dem Verbote.
In dem Gedicht »Ich weiß« werden ihre Todesahnungen deutlich, wobei der Prozess der zunehmenden körperlichen Schwäche und des abnehmenden seelisch-geistigen Antriebs in das Zentrum tritt: dies im Sinne eines langsamen Verlöschens. Zugleich schält sich in der drittletzten Zeile eine Transzendenz-Orientierung heraus, die in den beiden letzten Zeilen vollumfänglich thematisch wird: in diesen drückt sich die Hoffnung auf eine metaphysische Heimstatt aus, zudem der innere Weg zu dieser.
Ich weiß
(Else Lasker-Schüler)
Ich weiß, dass ich bald sterben muss
Es leuchten doch alle Bäume
Nach langersehntem Julikuss
Fahl werden meine Träume
Nie dichtete ich einen trüberen Schluss
In den Büchern meiner Reime. Eine Blume brichst du mir zum Gruß
Ich liebte sie schon im Keime.
Doch ich weiß, dass ich bald sterben muss. Mein Odem schwebt über Gottes Fluss
Ich setze leise meinen Fuß
Auf den Pfad zum ewigen Heime.
Wenige Monate vor ihrem Tod gibt sie in ihrem letzten Gedicht (»Man muss so müde sein«) Einblick in ihre Liebe zu dem drei Jahrzehnte jüngeren Wissenschaftler Ernst Simon, zeigt aber zugleich auf, wie sie sich von dieser Liebe – wie auch von der ganzen äußeren Welt – immer mehr nach innen hin zurückzieht. 4 Aus dieser Aussage lässt sich eine bedeutende Anforderung an die Begleitung eines schwerkranken und sterbenden Menschen ableiten, nämlich den Rückzug nach innen zu erkennen, anzunehmen und hochsensibel auf diesen zu antworten.
Man muss so müde sein
(Else Lasker-Schüler)
Man muss so müde sein
Wie ich es bin
Es schwindet kühl-entzaubert meine Welt aus meinem Sinn
Und es zerrinnen alle Wünsche tief im Herzen
Gejagt und wüsste auch nicht mehr wohin
Verglimmen in den Winden alle Kerzen
Und meine Augen sehen alles dünn.
Dich lasse ich zurück mein einziger Gewinn
Und bin zu müde, dich zu küssen und zu herzen
Ich setze fort mit drei Gedichten der Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz, geboren im Jahre 1901 in Karlsruhe, gestorben im Jahre 1974 in Rom. Die Lyrik zu Sterben und Tod dieser Schriftstellerin verdankt sich vor allem ihrer inneren Auseinandersetzung mit dem Tod ihres geliebten Mannes Guido Kaschnitz, bei dem 1956 ein Hirntumor diagnostiziert wurde, an dem er im Jahre 1958 verstarb. Für Marie Luise Kaschnitz bedeutete dieser Tod eine tiefgreifende Veränderung in ihrem Leben; ihre reiche Lyrik zu Sterben und Tod ging aus intensiven inneren Zwiegesprächen mit ihrem verstorbenen Mann hervor. Der Gedichtband »Dein Schweigen – meine Stimme« (1962) enthält zahlreiche Gedichte zu dem Topos »Sterben, Tod, Trauer«, aus dem nachfolgend eines – das »Requiem« – angeführt werden soll. 5 Dieses Gedicht beginnt wie folgt:
Requiem
(Marie Luise Kaschnitz)
Mit dem Tod muss ich umgehn
Dem schwarzen Hengst,
der sprengt mit der Schulter
Die sicheren Wände…
Hier wird die existenzielle Erschütterung unmittelbar erlebbar; der Tod scheint die innere Ordnung nicht nur zu erschüttern, sondern sogar vollends zu zerstören. Zugleich wird der Prozess der Verarbeitung des Verlusts als eine bedeutende seelisch-geistige Aufgabe charakterisiert: »Mit dem Tod muss (!) ich umgehn«.
Dieses »Requiem« wird nun wie folgt abgeschlossen:
Abgesang
(Marie Luise Kaschnitz)
Fährfrau mit dem runden Hut
Hast du ihn gesehen?
Ja, sagt die Fährfrau.
Hirte mit dem toten Lamm
Hast du ihn gesehen?
Ja, sagt der Hirte.
Bergmann mit dem weißen Licht
Hast du ihn gesehen?
Ja, sagt der Bergmann.
Welchen Weges ging er, Fährfrau?
Übers Wasser trocknen Fußes.
Welchen Weges ging er, Hirte?
Berghinüber leichten Atems.
Welchen Weges ging er, Bergmann?
In der Erde lag er still.
Was stand auf seinem Gesicht geschrieben?
Frieden, sagten alle. Frieden.
Drei Aspekte treten deutlich hervor: Erstens die Integration des gesamten Geschehens – des erlittenen Verlusts ebenso wie der eigenen inneren Verarbeitung – in eine umfassende »Naturordnung«; darauf deuten die gewählten Metaphern hin. Zweitens die Verbindung von Natur und Geist, die ebenfalls mit Metaphern ausgedrückt wird: »Über Wasser trocknen Fußes«, »Berghinüber leichten Atems«. Drittens der »Friede«, den der Verstorbene gefunden hat, der zugleich auf den eigenen inneren Frieden deutet: Soweit dies überhaupt möglich ist, ist ein bedeutender Teil der inneren Verarbeitung vollzogen. Der geliebte Verstorbene ist in das eigene Selbst »inkorporiert«.
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