Die Aufnahme glitt über kleine, unregelmäßige Brüste und einen von Schwangerschaftsstreifen übersäten Bauch. Der erste oberflächliche Eindruck hatte getäuscht. Die Zöpfe wippten über einem faltigen Hals, der das wahre Alter der Frau erahnen ließ. Ein MP3-Player jagte undefinierbare Beats durch die Kopfhörer. Das hochgeraffte seidene Unterkleid reichte bis zum Ansatz der Beinprothese. Das linke Bein war am Oberschenkel amputiert. Die Kamera machte den Farbunterschied deutlich. Das echte Bein war blasser und unregelmäßiger im Muskeltonus. Zarte blonde Härchen am rechten Unterschenkel bewegten sich im Rhythmus des Turnschuhs.
Der Ankleideprozess war ein mühsamer Vorgang. Die Kamera zog sich vorübergehend hinter den Rand der Kabine zurück und tastete sich durch dunkel erscheinende Stoffe und eine winzige Aussparung, in der zwei abgewetzte Sessel und ein Wasserkocher standen. Die Sequenz endete mit einer Nahaufnahme eines satt roten Textilstreifens. Die Stimme erläuterte mit merklicher Aufregung, dass es sich um den Trennvorhang zu der Umkleidekabine handele. Eine Hand schoss nahe an der Kamera vorbei. Ein leichtes Klirren und die undefinierbare Nahaufnahme einer Metallstange wurde sichtbar. Schritte und Stimmen nahten. Die Aufnahme fing ein Stück grauen Boden ein und zeichnete die hektischen Geräusche einer Flucht auf. Der fragende Ruf einer Frau. Dann Stille und ein unterdrücktes Keuchen. Noch einmal ein Ruf, dieses Mal weniger überzeugt. Der Bildausschnitt brav auf den Boden gerichtet. Wartend.
Erneut der Schraubenzieher. Ein verräterisches Knacken, aber kein Innehalten. Die Stimme jetzt kühl und selbstbewusst. Ein Spalt neben dem Rücken der Zopfträgerin. Die Kamera dokumentiert die letzten Handgriffe vor dem Verlassen der Kabine. Zwei sommersprossige Hände schließen einen Reißverschluss. Ein Fuß in einem flachen Schuh schiebt eine bauchige Handtasche mit bunten Applikationen zur Seite. Es ist eine flüssige, geschickte Bewegung, die die Prothese ausführt. Sie verrät Übung und die Versöhnung mit einem harten Schicksal. Die Stimme hatte in der üblichen Kurzbiografie erwähnt, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte, war aber nicht näher auf die Umstände eingegangen.
Zwei Schritte und der Griff zum Vorhang. Ein Straffen des Oberkörpers und das Ratschen der Messingringe. Der Aufschrei paarte sich mit dem Vornüberfallen der Frau, als der schwere Stoff über die Schiene hinausfuhr und zu Boden glitt. Die Prothese machte eine steife Verbeugung und zog eine abgeknickte Hüfte mit sich. Eine Hand schlug mit einem hohlen Geräusch gegen die Trennwand. Die Frau fiel nach links und kollidierte mit dem Hocker, der nach vorn geschleudert wurde. Das rechte Bein hatte die Situation nicht mehr retten können und ragte angewinkelt in die Luft. Die Arme der Gestürzten tasteten nach ihrem Kopf.
Der Schraubenzieher hatte die Rückwand aufgerissen. Die Prothese hatte sich von dem Beinstumpf gelockert und war durch das Hosenbein nach vorn geschlüpft. Der Winkel des Beines war bizarr und der Anblick unerträglich. Aufgeregte Stimmen und ein trockenes Schluchzen der Frau.
Ein Arm wand sich durch den Spalt und führte aus dem Handgelenk präzise Bewegungen aus. Der längliche Gegenstand in der Hand setzte die Bewegungen in Muster um, die im Rücken der Liegenden in Rot erblühten. Der Körper der Frau erschauerte. Geschminkte Münder herbeigeeilter Verkäuferinnen kreischten im Quartett. Eine kräftige Frau im himmelblauen Kostüm hatte die Prothese in dem Versuch, die Gestürzte aus der Enge der Kabinen zu zerren vom Beinstumpf gerissen und hielt das Bein mit weit aufgerissenen Augen auf Armeslänge von sich. Selbst als sie in Ohnmacht fiel, hielt sie das Bein umklammert, als sei sie für dessen Wohlergehen persönlich verantwortlich.
Die Rückwand war in ihre ursprüngliche Position zurück geschnappt. Die Kamera entfernte sich rasch und umkurvte ungeduldig Kleiderstangen, um hoch aufgerichtet in der quer zum Tatort liegenden Herrensektion aufzutauchen. Noch einmal flüsterte die Stimme. Man konnte ihr die Mischung aus Triumph und Erleichterung anhören. Das Auge der Kamera war schräg nach unten gekippt. Die Aufnahmen konnten sich nicht zwischen den vorbeilaufenden Schuhpaaren entscheiden. Kurz vor der Rolltreppe wagte die Kamera einen letzten verstohlenen Blick. Er verharrte auf einem zierlichen silbernen Entenkopf, der als Knauf eines eleganten Gehstocks diente. Die Frau in der Kabine würde ihre Gehhilfe nicht vermissen.
Wie jeder ambitionierte Mitbewerber verglich auch Mark das Gesehene mit den Früchten seiner eigenen Anstrengung. Er bemühte sich um Fairness und eine Abwägung nach objektiven Gesichtspunkten. Der Schwierigkeitsgrad und die Originalität des Projekts waren unleugbar hoch, die Umsetzung etwas unelegant, aber immer spannend und von einer atmosphärischen Dichte, die der Improvisiertheit der Situation entsprang. Schweren Herzens wertete er den schwedischen Beitrag höher als er seine eigene Performance einschätzte und sandte das verschlüsselte Raster an den Server der Gemeinschaft.
Um den vor ihm liegenden Arbeitstag zu erleichtern, nahm er noch einmal die Briefe zur Hand. Es waren schnörkellose Zeugnisse einer gepflegten Gesprächskultur, zurückhaltend, aber mit genügend Persönlichkeit versehen, sodass die Zeilen eine gewisse Wärme ausstrahlten. Bislang war es immer so gekommen, dass seine Mutter recht behalten hatte, wenn sie ihn vor der Raffinesse der Frauen warnte, deren Hauptanliegen es nach den Gesetzen der Natur war, sich um ihre Brut zu sorgen und mit ihren Attributen Männer zu locken und an sich zu binden, die die Gewähr für erstklassiges Erbgut und eine lebenslange Versorgung boten.
Wie alle Söhne hatte er die weitschweifigen Ausführungen nicht ernst genommen und war mit bitteren persönlichen Niederlagen in seine Karriere als sexuelles Wesen gestartet. Er hatte es nie vermocht, es gekonnt nach außen zu transportieren, dass große, schwingende Brüste ihn ängstigten, ausladende Hintern eine zu grobe Botschaft aussandten und fleischige Schenkel bedrohlich wirkten wie mächtige Zangen, die unter madonnenhaft gerundeten Mädchengesichtern Knechtschaft für den Mann bewirkten, der sich in ihre Obhut begab. Nicht anders war es mit den rachitischen Geschöpfen und ihren flachen Bäuchen, den dürren Beinen in engen Röhrenjeans und den spitzen Brustansätzen auf den schmalen Brustkörben. Sie waren Imitate von Frauen, eifrig flanierende Modeständer, die ihre Magerkeit in die Waagschale im Kampf um die Aufmerksamkeit paarungswilliger Männer warfen und sich ein hohes Maß an Arroganz leisteten, das von dem gängigen Geschmacksdiktat der Frauenzeitschriften herrührte.
Als persönliche Niederlage empfand er es allerdings, dass er auch bei dem Anblick unspektakulärer Normfrauen keine sexuelle Regung empfand. In einem Alter, in dem sich seine Mutter entschlossen hatte, die Familienplanung ihres Sohnes auf den Weg zu bringen, suchte er noch immer nach dem Auslöser jener adoleszenten Erregung, die bei seinen Altersgenossen zu einem lächerlichen Balzverhalten, zu öffentlich ausgefochtenen Prahlritualen und einem unseligen Hang zu möglichst eng geschnittenen Hosen führte.
Er wusste es zu schätzen, dass seine besorgte Mutter ihm eine schreiend gelbe Badehose bereitlegte, die mit optimistischem Tangaschnitt seine Geschlechtsorgane hob und nach vorne presste und einen gockelhaft stolzierenden Gang erzwang, der in der Badeanstalt eine gewisse Unruhe unter den weiblichen Gästen hervorrief. Sie schien unter dem Eindruck zu stehen, dass das offenkundige Defizit in der Entwicklung eines gesunden jungen Mannes von Erziehungsfehlern herrührte. In vorsichtigen Gesprächsansätzen versuchte sie herauszufinden, ob die mütterliche Besorgtheit als übermäßige Strenge wahrgenommen worden war, sodass für den Sohn eine Annäherung an das weibliche Geschlecht als eine Art Vergehen gewertet würde. Ziemlich direkt, so wie es ihre Art war, sprach sie das Problem der Homosexualität an und erntete nach ungläubigen Blicken ein prustendes Lachen, das sie mehr erleichterte als sie zugeben wollte.
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