Bei der Bahn ist vieles ein wenig heikel geworden in den letzten Jahren. Der jeweilige Bundesverkehrsminister kommt häufig aus dem autofixierten Bayern. Gelegentlich erwecken sie den Eindruck, dass die Blutbahnen zum Gehirn unrentable Nebenstrecken sind. Bei der Bahn walten Minutendiebe, Stundendiebe, im vorliegenden Hunsrückfall sogar Tagediebe, ja, diese klassische Betätigung erfährt hier eine absolut moderne Auslegung. Ein Verspätungsbonussystem, das wär’s: Frequent-Loser-Meilen. Vielleicht gibt es in der Bahnzentrale irgendwo einen Minutensammler, der Minuten hortet bzw. auf dem freien Markt weiter verscherbelt an Leute, die chronisch klamm sind an Zeit. Was genau macht der Pofalla eigentlich bei der Bahn AG? Die originellste Verspätungsbegründung lautet natürlich: „Auf Grund einer Verzögerung im Betriebsablauf ...“ Natürlich auf Grund einer Verzögerung – was denn sonst?
Diebstahl im Minutentakt. Was könnte ich mit all den Stunden anfangen, welche die Bahn mir jährlich klaut, gerade jetzt, wo mir die Zeit knapp wird. Der letzte Monat war besonders ergiebig, meine persönliche Verspätungsbestleitung von 2007 wurde noch übertroffen. Über die Urkunde des Bundespräsidenten habe ich mich natürlich ganz arg gefreut, die hängt jetzt neben der von den Bundesjugendspielen 1966. Das war natürlich ein Scherz, ich habe nie eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen bekommen. Was glauben Sie denn, warum ich Künstler werden musste? Reine Kompensation. Und was habe ich mir dafür eingehandelt? Eine bahntraumatische Belastungsstörung.
Was mir 2008 entgangen ist, da oben im Hunsrück? Eher nichts, ich hatte die Reise schon vorsorglich zu Beginn der Nuller Jahre unternommen und darüber notiert: „Das Hunsrückbähnlein benötigt für die paar Meilen von Boppard nach Emmelshausen stolze 20 Minuten. Obwohl sie sich an der legendären Darjeeling-Bahn zu orientieren scheint, haben wir es keineswegs mit einem Pampaexpress zu tun: Hier finden sich voll ausgerüstete Kids mit Gameboys und iPods, gerade wie anderswo. Eigentlich sollten sie die Linie serienmäßig mit Wlan-Anschlüssen ausstatten, das würde die Jugend in Scharen in die Bahn locken. Was macht die Bahn stattdessen? Deklariert die Route zur Nostalgiestrecke. Konsequenterweise hätten sie dann den Bahnhof Boppard mit Thonetstühlen bestücken müssen. Das Bähnlein besteht aus einer Diesellok und zwei reichlich unromantischen Waggons, und was das Tempo angeht, so unterschreiten sie sicher die Werte der Zahnradbahn, die 1908 hier verkehrte.
Selbst auf diesen doch eher beschaulichen 15 Meilen das Mühltal hinan bringt die Bahn eine Verspätung von fünf Minuten zuwege. Das Schienennetz ist marode, weswegen die Deutsche Bahn, so habe ich der Presse entnehmen dürfen, immer mehr sog. Langsamfahrstellen einführen muss, die der Bahnler „La“ nennt. Boppard nach Emmelshausen: Lalalalalalalalalaa. Das ganze Land ist eine Langsamfahrstelle. Die Fahrt selbst ist eher profan. Was habe ich erwartet? Dass Edgar Reitz die Karten kontrolliert? Also bitte, der Mann ist über 70. Gut, wer Oregon mag, sollte sich das mal gönnen: Wald, Wald, Wald, minus die Rodungsflächen. Millionen von Zecken, die nur darauf warten, sich auf einen neuen Wirt zu schwingen. Die Romantik findet ihr jähes Ende, wenn der Zug die Autobahn überquert. So viel zum Thema Abgeschiedenheit. Buchholz bietet als Haltepunkt einen knallroten Kubus, der auch nicht eben nostalgisch anmutet. Übersehen wird ihn der Lokführer sicher nicht.
Bereits im Dezember 2011 erhielt der neue Streckenbetreiber eine uneingeschränkte Zulassung für einen der drei Triebwagen. Zwei mussten noch zum Knochenflicker, aber ab Januar 2012 ging’s richtig los. Nur mich haben sie halt nicht dabei haben wollen.
Stadt-Express SE 23034
Mannheim. Ludwigshafen-Stadt. Ludwigshafen Hauptbahnhof. Ludwigshafen-Mundenheim. Ludwigshafen-Rheingönheim. Limburgerhof. Schifferstadt. Böhl-Iggelheim. Haßloch. Neustadt/Wstr.-Böbig. Neustadt/Wstr., Lambrecht. Neidenfels. Weidenthal. Frankenstein. Hochspeyer. Kaiserslautern Hauptbahnhof. Kaiserslautern-Kennelgarten. Kaiserslautern-Vogelweh. Einsiedlerhof. Kindsbach. Landstuhl. Hauptstuhl. Bruchmühlbach-Miesau. (Homburg. Limbach. Kirkel. Rohrbach. St. Ingbert. Scheidt. Saarbrücken-Ost. Saarbrücken Hauptbahnhof. Völklingen. Bous. Saarlouis. Dillingen. Beckingen. Merzig. Mettlach.) Saarburg. Konz. Trier Hauptbahnhof. DB-Fahrplan
Vom Stadt-Express hieß es weiland im Fahrplan mit dem prosaischen Namen „Städteverbindungen“, er schaffe „schnelle Direktverbindungen in die Zentren. Außerhalb von S-Bahnen hält der SE an allen, innerhalb von S-Bahn Netzen nur an ausgewählten Stationen.“ Auf der Anzeigetafel las sich das wie folgt: „Hält nicht an allen Stationen.“ Die Wahrheit ist, dass zwischen Ludwigshafen Hbf und Trier maximal zwei ausgelassen werden, eine davon im Saarland. Oftmals tönt es aus den Lautsprechern: „Mit Halt auf allen Unterwegsbahnhöfen“ – was die Frage aufwirft, ob es wohl auch andere gibt, also solche, die nicht unterwegs zu finden sind. Der Stadt-Express ist längst Geschichte. Wikipedia schreibt dazu: „Die Deutsche Bahn hat die Produktkennung SE bzw. CB vom Markt genommen. Die Leistungen werden seitdem durch Regionalbahn- oder Regional-Express-Verkehre erbracht. Einige dieser Linien setzen das Konzept des Stadt-Express heute noch um.“ Vielen Dank fürs Erste. Höchste Zeit für einen Nachruf.
Wir schreiben das Jahr 2001. Der Startbahnhof ist Mannheim, wo auch der DB-Zug „Notfalltechnik“ daheim ist: Spreizen, Schneiden, Werkzeug, steht auf einem signalroten Waggon. Aktuell verdeckt er den schwer demolierten IC, der am 4. August 2014 von einem Güterzug aus dem Gleis gekickt worden ist. Da hatten die Notfalltechniker sozusagen ein Heimspiel. Mannheim ist nicht eben für seine vornehme Zurückhaltung bekannt. Deshalb passt der folgende Dialog zweier Streckenarbeiter sehr gut. In der Schließfächerhalle (Umkleiden haben sie anscheinend keine) ziehen sich die beiden nach getaner Arbeit um. Nach der Durchsage „Dieser Zug hat 70 Minuten Verspätung!“ meint der eine: „Clever. Personenschaden am Gleis, das erspart ihnen die Entschädigung!“ Sagt der andere: „Hat sich wieder einer geopfert.“ Der Rekord für Nachzahlgebühren bei den Schließfächern am Mannheimer Hauptbahnhof liegt übrigens bei 90 Euro Nachzahlgebühr. Welche Geschichten sich da wohl hinter verbergen?
Da Freitag ist, habe ich mich für die Erste Klasse entschieden, um den Kontakt zur kämpfenden Truppe auf ein Minimum zu reduzieren. Reine Notwehr. Autoren, die sich in ihren Werken mit der Eisenbahn beschäftigt haben, wie Tim Parks oder Peter Bichsel, schwören auf die 2. Klasse, weil es da angeblich mehr zu beobachten gibt. Ich teile diese Auffassung nur bedingt, denn dank Bonusmeilen und Sparpreisen entbehrt die 1. Klasse längst jeglicher Exklusivität. Sie ist nur etwas weniger voll. Ich brauche die Nähe zum sog. „einfachen Volk“ nicht unbedingt im Zugabteil. Zudem beflügelt die Fahrtzeit von knapp dreieinhalb Stunden den Wunsch nach etwas mehr Komfort. So man denn von solchem sprechen kann: Der SE kommt weitgehend ohne aus, ohne Speisewagen, ohne Kaffeeküch‘, ohne Minibar, ohne Tischchen, ohne Fußkussservice. Immerhin hat man sich inzwischen dazu durchringen können, den Umgangston geringfügig freundlicher zu gestalten. Nachdem ich mich mit meinem Gepäck durch die Tür zur 1. Klasse gezwängt habe, was nicht ungefährlich ist, pflegen diese doch zuzuschnappen wie Alligatoren, lasse ich mich auf einem blassblauen, leidlich bequemen Sitz nieder. In eine Art Naturholz hat man mittels einer Art innovativer Laubsägearbeit eine Art Flaschenhalter eingelassen, der allerdings verschwindet, wenn man die Armlehne herunterkippt.
Schon in Mannheim ist das Luxemburger Ehepaar eingestiegen. Er passiert zügig das Raucherabteil, das aus einem Glaskasten mit vier Sitzen besteht und mich an den gläsernen Pranger am Flughafen in Salt Lake City erinnert, wo armselige Raucher den spöttischen Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben werden, mit freundlicher Unterstützung von Reynolds Tobacco. Seine Frau folgt ihm nur bis zur Schiebetür desselben und biegt dann ab. Er schaut reichlich verdutzt und dreht sich dann zu ihr um und nickt ihr dann zu: „Ah, do kanns do fümme!“ Sie setzt sich hin und fümmt sogleich. Soeben bestätigt sich, was ich jüngst in einem SAT-1-Bericht über die Letzebuerger erfahren durfte: „An ihrer Muttersprache halten die Einheimischen fest.“
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