Bye Bye Birdie ist ein sentimentales, aber unterhaltsames Musical über die Verwerfungen in einer Stadt der Mittelklasse, die von einem berühmten, „gefährlichen“ und Elvis-ähnlichen Rockstar (Conrad Birdie) besucht wird. Man hatte uns die Rolle der Backup-Band zugewiesen, den Birdies. Als Star der Show trat Jan Murray als aufgebrachter Dad auf.
Wir gingen zur Probe und wurden vom Choreographen Michael Bennett ins Visier genommen. Jahre später – in den späten Siebzigern bis in die Achtziger hinein – sollten sich noch zahlreiche Möglichkeiten bieten, sich an den Typen zu erinnern, da er durch revolutionäre Shows wie A Chorus Line und Dreamgirls zum König des Broadway avancierte. Dieser dünne Kerl, der uns 1966 in Phoenix über die Bühne scheuchte, kann damals höchstes 23 Jahre alt gewesen sein, hatte jedoch das Feuer eines Menschen, der die Karriereleiter hochfällt. Damals hätte niemand ahnen können, dass er später an einem frühen Burnout leiden und an Aids versterben würde. Wir sahen ihn an und wussten augenblicklich, wer hier das Sagen hatte.
Mit seinem kurzen schwarzen Haar, der hautengen schwarzen Tanzkleidung und dem an den Nerven zerrenden Energiepegel eines New Yorkers rief uns Bennett auf die Bühne und kommandierte, dass wir uns in eine Reihe bezaubernder Tänzerinnen stellen sollten. Er zählte die Schritte aus und demonstrierte eine Drehung, was die ausgebildeten Tänzer sofort kapierten. Die Spiders bewiesen hingegen, dass die Erfahrungen als Athleten hier überhaupt nichts brachten. Wir ähnelten Steinklötzen.
„Timing! Timing!“, brüllte Bennett, dabei den Takt klatschend. Er beobachtete uns, während wir wie Weinsäufer über das Parkett torkelten, und stöhnte entsetzt: „Ihr Kerle seid Musiker?“
Bennett erstarrte, tief in Gedanken versunken. Alle warteten regungslos.
„Okay, ich möchte, dass ihnen je zwei Tänzerinnen zur Unterstützung unter die Arme fassen.“ Er gab ein kurzes Zeichen, und schon hingen zwei Miezen an meinen Armen. Bennett verdeutlichte uns seine Vorstellung, indem er über die Bühne stolzierte, zwei imaginäre Tänzerinnen an den Armen. Als er „Action“ forderte, kollabierten die Spiders und ihre zauberhaften Escort-Damen beinahe.
„Nein, nein, nein, aufhören!“, schrie er. „Hier bricht sich noch einer ein Bein oder Schlimmeres!“
Wieder warteten wir, während Bennett tief in Gedanken versunken und offensichtlich frustriert hin und her hastete. Meine haltungsbewussten Stützen standen graziös neben mir, die Nippel hoch „konzentriert“.
Während Speer einem wachsamen Marine-Rekruten ähnelte, lächelte Tatum die Damen charmant an, als kenne er sie sein ganzes Leben lang. Worüber grübelte der Choreograph?
Eine Zeitspanne lang, die der Ewigkeit glich, starrten alle im Theater feierlich auf Bennett und fragten sich, was dem Genie wohl einfällt.
„Scheiß drauf“, rief er dann abrupt. „Wir schneiden die Szene raus.“
Die Mädels ließen meine Arme fallen, als wären sie der Pyjama eines Leprakranken, und stolzierten davon.
Die Proben vergingen wie im Nu, und schon bald spielte die Band die Songs wie im Schlaf. Bei der Aufführung sollten wir die gewohnten Spiders-Jacketts tragen und schwarze Rollkragenpullover. Nicht die Garderobe wechseln zu müssen, kam uns gelegen, da wir nach der Abendaufführung quer durch die Stadt fahren mussten, um eine Spätvorstellung im VIP zu geben.
Und wie sieht es mit Zufällen aus, die einer Vorsehung gleichen? Bei einer Szene, einer Traumsequenz, standen eine Guillotine und ein Sarg auf der Bühne, ergänzt durch Sargträger.
Der Abend der Premiere war gekommen. Die Geräusche der Zuschauer glichen dem Summen eines Bienenstocks. Es roch nach einer Mischung aus Parfüm und Zigarrenrauch. Vince und ich saßen auf den Stühlen im Backstage und beobachteten das geschäftige Treiben. Jeder hier hatte in einen höheren Gang geschaltet.
Vince zog eine Mundharmonika aus der Tasche und blies ein bluesiges Riff an. Der Requisiteur warf ihm einen bösen Blick zu, woraufhin er augenblicklich aufhörte. Ein Mann von der Truppe hastete auf uns zu und flüsterte mit eindringlicher Stimme: „Birdies! Euer Zeichen! Ihr seid dran! Wo sind denn die anderen Birdies?“
„Ich hole Tatum“, meinte Glen. „Kann aber was dauern. Ich muss ihn nämlich von der heißen Tänzerin losreißen.“
Tatum kam gerade aus der Garderobe und steckte sich den Pullover unter den Gürtel. In dem schwarzen Outfit wirkte er schnittig. Er lächelte das Lächeln eines Mannes, der gerade verdammt viel Glück gehabt hatte.
Vince meinte: „Lasst uns die Charaktere verinnerlichen. Wir sind die Birdies!“
Das Theater zählte zu den modernen Gebäuden mit mittiger Bühne, die damals im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden schossen. Vince führte uns über Rampe 4, einem hölzernen Bühnenaufgang, und wir betraten die Bühne unter großem Applaus. Conrad, dargestellt von Tom Hasson, deutete auf Speer, der den Song einzählte. Wir begannen die Nummer und verabreichten den Theaterbesuchern eine zünftige Dosis Rock’n’Roll.
Schmalzig? Ja, aber es war immer noch ein Riesenerlebnis, als Conrad auf einige Mädels zeigte, die alle schrien und in Ohnmacht fielen. Als er mit seinem Hintern lustvolle Drehbewegungen machte und dabei „leidend“ zischte, schrien alle verbleibenden Mädels wieder und fielen zu Boden.
Kommentar: „Yeah.“ Was soll man sonst noch sagen? „Yeah!“
Für uns war es ein kurzes Intermezzo, doch wir empfanden die erste Begegnung mit der Theaterwelt als durchdringend und machtvoll. Wir absorbierten das Erlebnis, saugten es förmlich auf, erlebten Zankereien zwischen den Darstellern – was ein ganz besonders Theater darstellte – und hatten unsere erste Begegnung mit schönen, halbbekleideten Tänzerinnen.
Nach jeder Birdie-Aufführung hetzte die Band zum Spät-Gig ins VIP, wo wir einige der neu gelernten Show-Liedchen wie „Honestly Sincere“ und „One Last Kiss“ ins Programm warfen. Nun pulsierte der Theater-Virus in unseren Adern. Wir, und nur wir, beherrschten die Bühne mit eigenen Gesetzen und fühlten uns stolzer und härter als noch vor wenigen Monaten. Die Band hatte sich nun bewiesen, sich quasi legitimiert.
Der Vampir des Theaters hatte uns gebissen, und – um es in lyrischen Worten auszudrücken, die jeder versteht – sein ewiger Geist labte sich nun an den Flüssen unserer Seelen.
Tja, und dann ging es wieder ins Elternhaus, wo wir in unseren Jugendzimmern schliefen.
Die Blonde? Ja, die sah ich wieder. Es war bei der Konzertmuschel im Encanto Park, der bekanntesten Grünfläche von Phoenix. Wir sahen uns die erste Gruppe namens Holy Grail an, und ich erkannte den schlaksigen Drummer mit dem sonnengebleichtem Haar. Es war der „Wipe Out“-König Neal Smith! Ganz im Gegensatz zu seiner nett lächelnden Surf-Band, den Laser Beats, wirkte die Musik von Holy Grail packender, erwachsener und aggressiver. Sie schienen keine Angst davor zu haben, den ausgelatschten Pfad zu verlassen.
Während die Band „Shake Your Money Maker“ spielte, ein Publikumsliebling der Paul Butterfield Blues Band, versammelten sich einige Cops mit versteinerten Gesichtern an den Bühnenseiten. Offensichtlich hatten die ein Problem mit einem Becken von Neal, auf dem ein riesiges FUCK in roter Farbe stand. Als die Beamten die Bühne betraten, überraschte sie Neal, indem er sein Schlagzeug in tausend Stücke zerlegte.
Neal wurde abgeführt, und ich erspähte seine liebliche Schwester in der Menschenmenge. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ging auf sie zu. „Würdest du meinen Hut halten, wenn ich auf der Bühne bin?“, fragte ich sie.
„Ich glaube schon“, erwiderte sie mit einem verblüfften Gesichtsausdruck.
Als wir uns hinter der Konzertmuschel versammelten, verklickerte ich den Jungs, dass wir unbedingt ein Finale bringen müssten, das jenes von Holy Grail in den Schatten stelle.
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