Mit einem Krachen knallte die Schuppentür wieder zu, und Lottes hysterischer Schrei übertönte für einen Moment das Geräusch der sich nähernden Sirenen. Vorbei war es mit dem Frieden am Kiplings Vænge. Unablässig kamen und gingen für den Rest des Tages fremde Menschen, die hinter den Absperrungen zu tun hatten, während die Anwohner und eine Gruppe Journalisten die Aktivitäten von der anderen Seite des rot-weißen Absperrbandes verfolgten. Kriminaltechniker, Rechtsmediziner, Polizeifotografen, Sanitäter, Kriminalbeamte in Zivil. Selbst diejenigen, die mit alldem nicht zu tun haben wollten, konnten sich nicht entziehen. Der unwirsche Nachbar, der, wie sich herausstellte, nierenkrank war, wurde im Laufe des Tages mehrfach vernommen; und auch Lotte musste eine gründliche Erklärung und ihre Fingerabdrücke abgeben, bevor sie auf Anraten des Arztes etwas zur Beruhigung einnehmen durfte.
Abgesehen von der Mutter des Toten, die zutiefst schockiert aus einem Bibelcamp abgeholt werden musste, war Lotte von den Ereignissen am meisten gezeichnet. Der Anblick von Mikael Kjeldsens Leiche hatte sich auf ihre Netzhaut gebrannt; sie würde diesen Anblick nie wieder vergessen, wie viele Psychologen und Therapeuten ihr auch zu helfen versuchten. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, war sie doch erleichtert, das Gesicht des toten Mikael nicht gesehen zu haben. Sie wagte nicht daran zu denken, wie es gewesen wäre, in seine leeren blauen Augen zu schauen und ein letztes Mal den spärlichen Ansatz seines Schnurrbarts zu sehen. Die Leiche hatte auf dem Bauch gelegen, mit den Beinen an der Tür, umgeben von zerschlagenen Blumentöpfen, halb abgespulten Bindfadenrollen und einer Menge Blumenstäbe in verschiedenen Längen. Sein linker Arm steckte unter dem Schenkel, der rechte ragte nach vorn, in einem hässlichen Winkel an die Wand des Schuppens gedrückt. Dort, wo sein Kopf hätte sein sollen, lag ein grauer massiver Kasten, ein ausgemusterter alter Computerbildschirm der großen und unhandlichen Sorte. Was wog so ein Ding? Acht Kilo? Zehn? In einem Chaos aus Blut, Glassplittern, Knochenstümpfen und Hirnmasse lag der Bildschirm so dicht auf dem Betonboden, dass darunter unmöglich Platz für einen Kopf sein konnte. Irgendjemand hatte den schweren Bildschirm mit großer Kraft auf Mikaels Hinterkopf geschlagen, vielleicht, als er gerade etwas von einem der Regalbretter nehmen wollte. Sie könnte versuchen, das Bild seines misshandelten Körpers zu verdrängen, aber sie wusste, dass es ihr nie gelingen würde.
Auch den Anblick des Bluts würde sie nicht vergessen. Es war überall, bedeckte den Boden, durchtränkte seine Jogginghose und das T-Shirt; es hatte die Bretterwände bespritzt und den Rasenmäher die Farbe wechseln lassen – als hätte ihn jemand schwarzrot angesprüht. Und dann war da noch dieser Geruch: stickig, süßlich, metallisch. Wie der Geruch, der von einem vakuumverpackten Rinderfilet aufsteigt, wenn die Plastikhülle aufgeschnitten wird. Nie wieder würde sie sich einen Splatterfilm ansehen können, dachte sie, und als hässliche Assoziation ging ihr noch ein unerquicklicher Gedanke durch den Kopf: Wer würde den Schuppen später sauber machen? Der Mutter war doch keinesfalls zuzumuten, die makabren Reste ihres einzigen Kindes selbst zu entfernen? Wäre Lotte etwas robuster gewesen, hätte sie möglicherweise ihre Hilfe angeboten, aber so, wie die Sache im Moment stand, musste sie um ihrer selbst willen möglichst großen Abstand halten.
Bevor sie endlich einschlief, dachte sie noch kurz an das merkwürdig filigrane Muster auf den Fliesen vor dem Schuppen: eine feine glänzende, schwarzrote Bordüre von kleinen Pfoten – wie die Spur eines sehr kleinen Tiers, das dem Schuppen etwas zu nahe gekommen war, als das Blut noch nicht geronnen war.
Erster Teil
1 / Samstag, 3. März 2007
Die ersten blassen Strahlen der Morgensonne bahnten sich ihren Weg zwischen den Lamellen der Jalousie; sie trafen auf das Fußende des Betts und den Rand des herunterhängenden Lakens, das den Boden streifte. Ursula hatte Rückenschmerzen, aber bewegen wollte sie sich auch nicht, um nicht zu riskieren, ihn zu wecken. Sie wollte den Anblick ihres jungen Liebhabers genießen, ohne dass er es wusste. Wenn er bemerkte, dass sie ihn betrachtete, würde er sie möglicherweise ebenfalls anschauen wollen. Und sie mochte nicht, dass jemand ihre nackte Haut bei Tageslicht sah. Er musste nicht unbedingt auf den Kontrast zwischen ihrer schlaffen, mit Sommersprossen übersäten Hülle und seiner eigenen seidenweichen Haut aufmerksam gemacht werden. Straff und geschmeidig umgab sie ihn, jeder einzelne Muskel, jede Sehne, jeder Knochenvorsprung zeichnete sich so scharf ab, als wäre er aus marzipanfarbenem Marmor gehauen. Jedes Mal, wenn sie ihr eigenes weiches, schlaffes Bauchfell mit seinem flachen, harten Unterleib verglich, zog sich etwas in ihr zusammen. Ihr wabbliges Oberarmfleisch gegen seinen wohldefinierten Bizeps. Ihre dreiundfünfzig Jahre gegen seine neunundzwanzig.
Diese Zeit am frühen Morgen war so kostbar. Aus Furcht, den Zauber zu brechen, wagte sie kaum zu atmen.
Plötzlich öffnete Jakob die Augen. Sie waren auf sie gerichtet, allerdings ließ sich ihr Ausdruck nur schwer erkennen. Sein Gesicht befand sich nur fünfzehn Zentimeter von ihrem entfernt, viel zu nah, um etwas anderes von ihm zu sehen als ein unscharfes Bild. Normalerweise trug Ursula ihre Lesebrille nicht im Bett; ein Impuls sagte ihr, den Kopf zurückzunehmen und die Augen scharf zu stellen, doch sie bekämpfte den Drang und lächelte stattdessen versuchsweise. Seine hübschen grüngrauen Augen schlossen sich wieder, ohne dass er eine Miene verzogen hätte. Falscher Alarm. Er schlief noch. Er schmatzte ein paarmal im Schlaf, drehte ihr den Rücken zu und zog bei dieser Bewegung die gesamte Bettdecke mit sich. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Ihre Hitzewallungen würden sie schon warm halten, obwohl sie nun ungeschützt und nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet im Bett lag.
Vorsichtig brachte Ursula sich in eine angenehmere Position, die Schmerzen im Rücken ließen schlagartig nach. Sie seufzte erleichtert, wippte mit den Füßen und spürte sofort, wie das Blut freier durch die Adern floss. Sie zwang sich, ruhig und entspannt zu atmen, darauf zu vertrauen, dass er nicht im Laufe der nächsten Stunde erwachte. Sie schätzte die Stille dieser frühen Morgenstunden, des einzigen Zeitpunkts am Tag, an dem sie ungestört über ihr einzigartiges Glück nachdenken konnte.
Ursula Olesen kannte Jakob Heurlin seit vier Monaten, einer Woche und zwei Tagen, und in dieser Zeit hatte es tatsächlich keine wache Minute gegeben, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Wenn sie unterrichtete, wenn sie fernsah, wenn sie aß, trank oder auf die Toilette ging. Alles erinnerte an ihn. Das Gefühl des Stoffs auf der Haut, wenn sie morgens eine frisch gebügelte Bluse über den Kopf gleiten ließ, die Stimmen der Nachrichten durch die geschlossene Küchentür, der Geschmack von trockenen Zimtschnecken, der Anblick eines türkisfarbenen Pinselstrichs auf einer weißen Leinwand. Ihre Sinne hatten ihn verschlungen, so wie ihr Körper ihn empfangen hatte und mit seinem eins geworden war. Er war in sie übergegangen, ein Teil von ihr.
Natürlich hatte Ursula schon geliebt. Genug, um zweimal verheiratet gewesen zu sein; genug, um ihre Tochter Anemone bekommen und untröstlich geheult zu haben, als ihre Ehen vorbei waren. Aber nie, niemals wie jetzt. Nie zuvor hatte sie es wie Magie empfunden, wie ein … nun ja, Wunder. An diesem Wort kam man nicht vorbei, dachte sie und ließ die Augen über Jakobs nackten Rücken gleiten. Die Sonnenstrahlen strichen nun über ein Schulterblatt, den Nacken und die sich deutlich abzeichnenden Muskeln auf jeder Seite des perfekten Bogens seiner Wirbelsäule. Er hatte eine kleine, längliche Tätowierung auf der rechten Schulter, ein indisch aussehendes Wort.
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