Abb. 2.2: Die Pyramidenbahn: Das im Rückenmark absteigende Faserbündel aus dem motorischen Kortex erreicht die verschiedenen Rückenmarksebenen.
2.2 Das extrapyramidale System und das Kleinhirn
Neben dem sehr direkt, aber auch etwas grob steuernden pyramidalen System ist das extrapyramidal-motorische System parallel geschaltet. Es regelt die Haltungs- und Bewegungseinstellungen sowie die Muskelspannung (Tonus) und unterstützt die Verschaltung zum Kleinhirn. Es bezieht seine Signale vornehmlich aus dem prämotorischen und supplementären Kortex und gibt sie über Synapsen an die Basalganglien weiter. Die Basalganglien (auch Stammganglien genannt) sind große Kerngebiete unterhalb der Hirnrinde (subkortikal), die über eine Rückmeldeschleife über den Thalamus zur Großhirnrinde eine motorische Regulation leisten. Darüber hinaus sind sie in die Handlungsplanung, das vorausschauende Handeln, die motorische Spontaneität und Selektion sowie die Bildung von Handlungsabfolgen einbezogen.
In einer zweiten Schleife zur Feinregulation und Verknüpfung werden Signale der Pyramidenzellen in einem Nebenschluss zum Kleinhirn geleitet. Das Kleinhirn ist u. a. für die Steuerung der Bewegungen zuständig, also für Koordination, Feinabstimmung, unbewusste Planung und das Erlernen von Bewegungsabläufen. Darüber hinaus ist das Kleinhirn parallel zum Großhirn an der Verarbeitung optischer und akustischer Signale beteiligt.
Das Rückenmark (Medulla spinalis) ist derjenige Teil des ZNS, der im Wirbelkanal der Wirbelsäule verläuft. Das spinale System umfasst also einerseits absteigende Bahnen der Motorik und andererseits aufsteigende Bahnen der Sensorik zur Weiterleitung der gefühlten Informationen. Auf jedem Segment des Rückenmarks verlassen periphere motorische Nerven rechts und links über die vordere Nervenwurzel den schützenden Nervenkanal. Die hintere Nervenwurzel wird auch als sensibles Neuron bezeichnet. Sie leitet Impulse aus dem Körper zur grauen Substanz des Rückenmarks.
Reflexe sind programmierte Bewegungsabläufe. Auf einen spezifischen äußeren Reiz folgt eine schnelle, typische und reproduzierbare Reaktion. Da das Gehirn an der Reflexbildung nicht oder nur gering beteiligt ist, laufen Reflexe unbewusst ab. Diese Reaktionen sind daher sehr schnell und schützen uns in kurzer Zeit. Die kürzeste Verschaltung zwischen einem Motoneuron und einem sensiblen Neuron ist der Muskeleigenreflex. Wird z. B. die Kniesehne durch einen Schlag mit einem Gummihammer gedehnt, sendet das sensible Neuron das Dehnungssignal über einen sensiblen Nerv an das Rückenmark. Dort wird es direkt auf ein Motoneuron umgeschaltet und gelangt über den motorischen Nerv zum zugehörigen Muskel. Beim Kniesehnenreflex zieht sich der streckende Oberschenkelmuskel zusammen und bewirkt eine Streckbewegung im Kniegelenk. Solche Reflexreaktionen haben den Vorteil, sehr schnell und automatisiert abzulaufen. Rhythmische Bewegungsmuster wie Laufen oder Hüpfen vereinen in sich Merkmale von Willkürbewegung und von unwillkürlichen, durch Reflexe beeinflusste Bewegungen. Der Beginn kann willkürlich, also kortikal und subkortikal ausgelöst und am Ende bewusst kontrolliert werden. Einmal ausgelöst, sind solche wiederkehrenden und erlernten Muster aber fast automatisch auf reflexhafte Weise ohne großen Aufwand zu bewältigen. Wenn man einmal das Laufen, das Schwimmen, das Autofahren oder das Ballwerfen erlernt hat, können deren unbewusste Bewegungsanteile rasch und zuverlässig abgerufen werden. Wenn ein erlernter Bewegungsablauf modifiziert und an neue Bedingungen angepasst werden soll, muss er bewusst gesteuert und geübt werden, um dieses neue Muster wieder zu automatisieren. Das spinale System hilft auch dabei, das Wechselspiel zwischen Anspannung (Kontraktion) und Entspannung von gegensinnig arbeitenden Muskeln zu steuern. So können das Beugen und Strecken des Unterarms oder des Unterschenkels nur im Wechselspiel zwischen gegensinnig arbeitenden Beuge- und Streckmuskeln wirksam werden.
Neben dem Eigenreflex gibt es noch andere Arten von Reflexen. So schützt uns der angeborene Lidschlussreflex vor einer Augenverletzung. Darüber hinaus gibt es erlernte (konditionierte) Reaktionen, wie die bedingte Sekretproduktion, die allein auf den durch Training zum bedingten (konditionierten) gewordenen Glockenton beim Pawlowschen Hund ausgelöst werden kann. Solche Arten von erlernten Reaktionen erfordern ein Zusammenspiel verschiedener Hirn- und Rückenmarkszentren.
Beim Säugling gibt es zwei Arten von Reflexen, die wir kennen sollten: die Neugeborenen-Reflexe, die leider manchmal noch Primitiv-Reflexe genannt werden, und die reflexähnlichen Säuglings-Reaktionen.
Als Neugeborenen-Reflexe werden angeborene Reflexbewegungen bezeichnet, an denen mehrere Muskelgruppen beteiligt sind und die nach vier bis acht Wochen spontan abklingen. Dazu gehören u. a. der Saugreflex, der Suchreflex, der Schreitreflex, der Fußgreif- und der Handgreifreflex. Nur eine schwache Form des Fußgreifreflexes kann manchmal noch über einige Monate ausgelöst werden. Die Neugeborenen-Reflexe statten den kleinen Säugling mit nützlichen Bewegungsschablonen aus, die überlebenswichtig sind: Der Suchreflex wird bei Berührung der Wange ausgelöst und führt zu einer Bewegung des Köpfchens zur Seite und zu einer Öffnung des Mundes. Er erleichtert das Auffinden der mütterlichen Brustwarze. Der Saugreflex tritt sofort ein, wenn die Lippen berührt werden. Der Saugreflex wird schon im Mutterleib genutzt: Das ungeborene Kind lutscht manchmal stark an seinem Daumen. Bekommt der Säugling Milch, wird gleichzeitig der Schluckreflex ausgelöst. Auch der Schluckreflex wird schon vor der Geburt im Ultraschallbild beobachtet: Das Kind schluckt Fruchtwasser.
Die Säuglingsreaktionen sind Haltungs- und Stellreaktionen. Ihre komplexen Muster erfüllen eigentlich nicht mehr die Charakteristika von Reflexen, da der Ausprägungsgrad je nach Alter und Reifung des Kindes unterschiedlich sein kann und auch vom Wachheitsgrad und von emotionalen Faktoren abhängt. Zu den Säuglingsreaktionen zählen die »Landau-Reaktion« (Kind wird auf der Hand aus der Bauchlage hochgehoben), die Unterstützungsreaktion (Kind wird senkrecht unter den Armen gehalten und auf eine Unterlage gestellt) und die Traktionsreaktion (Kind wird aus der Rückenlage langsam an den Händen hochgezogen).
2.4 Zusammenfassung: Das motorische System
1. Pyramidales System: direkte Verbindung der Pyramidenzellen der motorischen Rinde mit Neuronen im Rückenmark
2. Extrapyramidales System: supplementär-motorischer Kortex, motorischer Kortex, Basalganglien
3. Kleinhirn: Verbindung zum assoziativen und zum motorischen Kortex und zur Muskulatur
4. Spinales System: Rückkopplungsschleife zwischen Muskeln und Rückenmark
Reflexe sind unbewusst ablaufende, vorprogrammierte Bewegungsmuster. Der Muskeleigenreflex verschaltet auf dem kürzesten Weg über das Rückenmark einen Dehnungsreiz mit einem motorischen spinalen Neuron. Reflexe und komplexe reflexartige Reaktionen ergänzen die Willkürmotorik mit automatisierten Bewegungsmustern. Die angeborenen Neugeborenen-Reflexe klingen in den ersten Lebenswochen und -monaten spontan ab. Säuglingsreaktionen und konditionierte Reflexe sind komplexe Bewegungsabläufe, die von Vigilanz, Emotion und bewussten und erlernten Mustern modifiziert werden.
Brühlmann-Jecklin, E. (2016). Arbeitsbuch Anatomie und Physiologie. München: Urban & Fischer/Elsevier.
Putz, R. & Pabst, R. (2007). Sobotta – Der komplette Atlas der Anatomie des Menschen in einem Band. München: Urban & Fischer/Elsevier.
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