Ein Getöse erhob sich. Niemand hatte erwartet, dass dies die erste Nummer sein würde. Sie dachten, wir würden das Konzert damit beenden. Das Publikum explodierte. Während jener ersten paar Sekunden war nur der Lärm der Menge zu hören – eine ohrenbetäubende Kakofonie aus Geschrei, Jubel, Gegröle, Pfeifen und überschäumendem Applaus. Ich wiegte mich im Scheinwerferkegel und saugte die intensive, elektrisch geladene Atmosphäre auf, dann wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und schloss die Augen. Während sich meine Finger automatisch auf dem Griffbrett auf und ab bewegten, gestattete ich mir ein kleines Lächeln. Das war es. Alles, wovon ich in den tiefsten Nächten jemals geträumt hatte – der berauschende Klang des Erfolgs.
ZWEI
Gainesville, Florida, war vermutlich nicht der ideale Ort, um aufzuwachsen, zumindest nicht das ärmere Viertel, in dem wir lebten. Als ich ein Kind war, war es eine für den tiefen Süden typische, gesichtslose Gemeinde, die einmal Hogtown Creek geheißen hatte und wo die einzige Fluchtmöglichkeit das Träumen war. Darin wurde ich rasch sehr gut.
Die Hauptattraktion des Orts war seine geografische Lage, mittendrin im Sunshine State, drei Stunden von der Hauptstadt Tallahassee entfernt. Bis zum Daytona Beach im Osten und zum Golf von Mexiko im Westen brauchte man mit dem Auto jeweils neunzig Minuten und etwa zwei Stunden bis nach Orlando, das jedoch rein gar nichts bot, bevor Mister Disney in den Siebzigern beschloss, dorthin zu ziehen. Die Rettung für Gainesville war die Universität von Florida, die im Jahr 1905 aus irgendeinem Grund beschloss, sich hier anzusiedeln, und Tausende von Leuten in die Stadt brachte. Hogtown Creek war nie wieder dasselbe.
Das Klima war heiß und sumpfig und die Luft voller Moskitos. Im Winter wurde es unangenehm kalt und nass. Es war jedoch eine Gegend, in der die Hausbesitzer ihre Türen nie verschließen mussten. Verbrechen gab es praktisch nicht.
Gainesville wirkte wie ein rosafarbenes Zeitvakuum, bevölkert von guten, aufrichtigen Menschen, die artige Kinder mit starken moralischen Wertvorstellungen großzogen und dann und wann zur Erbauung ein wenig in der Bibel blätterten. Die Wildnis ruft mit Gregory Peck und Jane Wyman erinnert mich stets an meine Heimatstadt in all ihrer zuckrigen Apfeltörtchensüße. Es war keine Überraschung, dass Marjorie Kinnan Rawlings, die Autorin von Die Wildnis ruft und anderen Romanen, ganz in der Nähe von Gainesville aufgewachsen war.
Meine Eltern, Charles „Nolan“ Felder und Doris Brigman, begegneten einander zum ersten Mal bei einem Blind Date im Jahr 1933, als sie beide in ihren Zwanzigern waren. Fünf Jahre lang trafen sie einander regelmäßig – sie „gingen“ buchstäblich miteinander, weil es während der Depression kein Benzin für Papas Chevrolet gab. Ihre wöchentliche Routine bestand aus einem Spaziergang in die Innenstadt zu Louie’s Diner, das es heute noch gibt. Dort aßen sie einen Hamburger zu fünfundzwanzig Cent und tranken eine Erdbeermilch, bevor sie zum Lyric Theater aufbrachen, um sich dort einen der neuen „sprechenden“ Filme anzusehen, in denen Stars wie Fred Astaire und Ginger Rogers auftraten.
Die Familie meiner Mutter war so arm, dass sie sich mit meiner Großmutter ein Paar Schuhe teilen musste. Mama borgte sie einmal in der Woche, um sie sonntags zur Bibelstunde zu tragen. Solche Armut ist oft der Grund für eine schwache Gesundheit, und so starb Großmutter Caroline an Herzversagen, als Mama gerade neun Jahre alt war. Dies zwang sie dazu, die Schule vorzeitig zu beenden, weil sie sich nun um ihren Vater, ihren älteren Bruder Buddy und ihre zweijährige Schwester Kate kümmern musste.
Mein Vater war deutscher Herkunft. Seine Vorfahren waren in Amerika sesshaft geworden, nachdem sie den langen Weg von Nordkarolina bis nach Hogtown Creek zu Pferd zurückgelegt hatten. Sie sahen aus wie aus einem alten Western – bärtig, mit Hüten und Gewehren und Hunden für die Waschbärenjagd, die faul zu ihren Füßen lagen. Papa war das älteste von vier Kindern, die von ihrer Mutter verlassen wurden, nachdem sie an chronischer Epilepsie erkrankt war. Er wurde von seinem gottesfürchtigen Vater großgezogen, der seinen Kindern mit Disziplin und Bibelversen Gehorsam einbläute.
Nachdem sie ein paar Jahre miteinander ausgegangen waren, beschloss mein Vater am Neujahrstag 1938, Doris zur Frau zu nehmen. Sie waren in Daytona Beach, und zur Feier des Tages kaufte er eine Flasche Schaumwein – ein seltener Moment der Frivolität. Er war achtundzwanzig Jahre alt, sie war fünf Jahre jünger als er. Mit seinen zwei besten Freunden, Chris Spell und Sam Dunn, und ihren Freundinnen fuhren sie um zehn Uhr an jenem Abend nach Trenton und weckten den Friedensrichter. „Wir wollen heiraten“, erklärten sie dem verschlafenen Beamten. Freundlicherweise entsprach er ihrer Bitte. Ihre Hochzeitsnacht verbrachten sie im Central Hotel in Gainesville, bevor jeder wieder nach Hause ging, bis sie ein eigenes Haus gefunden hatten.
In jenem Herbst begann Papa auf einem Baugrundstück in der Neunzehnten Lane Nordwest 217 in Gainesville mit der Arbeit. Es lag direkt neben dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Er verwendete seine mageren Ersparnisse dazu, das Holz und die Materialien zu bezahlen, die er benötigte. Das Haus wurde mit einem Holzrahmen auf Betonblöcken errichtet, damit die Luft darunter zirkulieren und keine Schlangen und Alligatoren eindringen konnten. Es stand an einer unbefestigten Straße, umgeben von dem für Florida typischen Gestrüpp, das auch als Palmwiese bekannt ist. Hinter dem Haus lag ein sumpfiger See, wo Louisianamoos von den Bäumen hing. Großvater Felder half ihm beim Hausbau, ebenso wie Mama und Jim Spell, der gleich nebenan wohnte. Meine Eltern bezogen eine weiße Schindelhütte mit Blechdach, identisch mit Großpapas Haus. Über die Jahre bauten sie ihr Heim aus und zogen einige Innenwände ein, um zwei Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer abzutrennen. Papa war immer sehr stolz auf die Tatsache, dass er sein Haus mit eigenen Händen erbaut hatte.
Sein gesamtes Leben lang arbeitete er als Mechaniker bei Koppers, einer Fabrik vier Blocks entfernt auf der Dreiundzwanzigsten Avenue Nordwest, die druckbehandeltes Holz für Telefonmasten und die Eisenbahn lieferte. Frisch geschlagene Bäume wurden auf Schienen hereingefahren, dann hoben riesige Maschinen sie auf Förderbänder, die zu einer gigantischen Drehbank führten, welche die Rinde entfernte und geschälte Stämme ausspuckte. Eine weitere Maschine verlud sie auf Schienenwagen. Eine Diesellok fuhr die Stämme in eine lange Metallröhre, die einhundert Meter lang war und mit einer riesigen Tür hermetisch verschlossen werden konnte. Die Bolzen schnappten ein, dann wurde geschwärztes Kreosotöl unter hohem Druck hineingepumpt. Wenn der Prozess abgeschlossen war, ließ die Maschine den Druck ab, öffnete sich und entließ die klebrigen schwarzen Stämme auf eine Schiene, von der aus sie ein anderer Zug nach Oklahoma oder sonst wohin brachte, wo sie eben gerade benötigt wurden. Es war ein unglaublich routiniertes Verfahren.
Abgesehen von ein paar Jahren, als er während der Depression gekündigt wurde, hatte Papa seit seinem zwölften Lebensjahr bei Koppers gearbeitet, lange bevor sie Gesetze über Kinderarbeit hatten, und dabei einen großen Teil der komplizierten Maschinen bedient. Wie sein Vater vor ihm, der ebenfalls Mechaniker in dieser Fabrik gewesen war, musste er entsetzliche Arbeitsbedingungen und unglaubliche Arbeitszeiten erdulden. Die Maschinen waren rund um die Uhr in Betrieb, und wenn es irgendwelche Probleme gab, sei es bei Tag oder bei Nacht, dann rief man ihn herbei. Oft hörte ich, wie morgens um zwei oder drei Uhr das Telefon klingelte und er aus dem Bett stolperte. Im Morgengrauen kehrte er dann vor Beginn seiner regulären Schicht noch einmal für eine Stunde Schlaf nach Hause zurück. Er atmete den ganzen Tag lang Kreosot- und Dieseldämpfe ein. Wenn er abends heimkam, war er von Kopf bis Fuß schwarz. „Zieh deinen Overall aus, Nolan“, schrie ihm meine Mutter dann schon entgegen, bevor er überhaupt einen Fuß ins Haus setzte. Pflichtschuldig schälte er sich aus seinen Kleidern und öffnete die Fliegengittertür in seinen Shorts und Socken. Er nahm eine ausgiebige heiße Dusche und versuchte, den schlimmsten Dreck abzuwaschen, aber unter seinen Fingernägeln und um die Nagelhaut herum war er dauerhaft festgefressen. Es umgab ihn auch immer dieser bestimmte Geruch.
Читать дальше