Wieder in Montesano, kehrte Kurt in seinen Keller im Haus in der Fleet Street zurück. Die Autoritätsprobleme mit seinem Vater eskalierten – es war, als hätte ihn die Zeit, in der er Don nicht gesehen hatte, in seiner Entschlossenheit nur bestärkt. Allen Beteiligten war klar, dass das Arrangement nicht auf Dauer sein konnte – sie hatten sich einander entfremdet, sie brauchten, ja sie wollten einander nicht mehr. Die Gitarre machte Kurt das Leben erträglich, und er übte täglich Stunden am Stück. Sowohl seinen Freunden als auch der Familie fiel auf, dass er langsam, aber sicher immer besser wurde. „Er konnte jeden Song nachspielen, nach einmaligem Anhören, alles, von Air Supply bis John Cougar Mellencamp“, erinnerte sich sein Stiefbruder James. Die Familie lieh This Is Spinal Tap aus, und Kurt und James sahen sich das Video fünfmal hintereinander an. Es dauerte nicht lange, und Kurt rezitierte ganze Dialoge aus dem Film auswendig und spielte die Songs der Band.
In der Zeit, in der Kurt wieder bei Don und Jenny wohnte, kam es zu einem weiteren Selbstmord in der Familie. Kenneth Cobain, Großvater Lelands letzter verbliebener Bruder, verzweifelte nach dem Tod seiner Frau und schoss sich mit einer Kleinkaliberpistole in die Stirn. Für Leland war dieser Verlust schier nicht mehr zu ertragen. Die Anhäufung tragischer Todesfälle in seiner Familie – seines Vaters, seines Sohnes Michael und seiner drei Brüder – stürzte den bislang eher temperamentvollen Mann in eine tiefe Melancholie. Wenn man davon ausgeht, dass Ernest sich bewusst zu Tode getrunken hat, haben sich alle drei Brüder Lelands das Leben genommen, die anderen beiden hatten sich erschossen.
Kurt hatte diesen Onkeln nie sehr nahe gestanden, aber wie ein Schleier legte sich eine düstere Stille über das Haus; in der Luft lag ein Gefühl, als laste ein Fluch auf der Familie. Seine Stiefmutter versuchte für Kurt einen Job als Gartenarbeiter aufzutreiben, die einzige Branche neben der Holzwirtschaft, in der in Monte Stellen zu haben waren. Kurt mähte ein paar Rasen, langweilte sich aber bald. Ein-, zweimal sah er die Jobanzeigen durch, aber viel hatte Monte in dieser Richtung, wie gesagt, nicht zu bieten. Der größte Arbeitgeber in der Region, das Atomkraftwerk am Satsop, war Pleite gegangen, noch bevor es überhaupt ganz fertig war, was der Stadt eine Arbeitslosenquote von fünfzehn Prozent bescherte, doppelt so hoch wie der Staatsdurchschnitt. Im Hause Cobain kam es zur Krise, als Don Kurt eröffnete, wenn er schon nicht zur Schule gehen oder arbeiten wolle, dann müsse er eben zum Militär. Schon am nächsten Abend lud Don einen Rekrutierungsoffizier der Marine ein, der sich mit Kurt unterhalten sollte.
Statt eines kräftigen, willensstarken Mannes – ein paar Jahre später hätte Kurt den Navy-Mann wahrscheinlich Kopf voraus vor die Tür gesetzt – fand der Rekrutierungsoffizier ein trauriges, gebrochenes Kind vor. Zur Überraschung aller hörte Kurt sich die Ausführungen des Mann sogar an. Am Ende des Abends meinte Kurt, sehr zur Erleichterung seines Vaters, er würde es sich überlegen. Für Kurt hörte sich der Militärdienst wie die Hölle an, aber es war eine Hölle mit einer anderen Postleitzahl. Zu Jesse Reed bemerkte er: „Wenigstens geben sie dir bei der Navy drei warme Mahlzeiten und eine Pritsche.“ Für einen Jungen, der auf der Straße gelebt und im Wartesaal eines Krankenhauses genächtigt hatte, erschien die Vorstellung von Sicherheit und regelmäßiger Verpflegung ohne elterliche Störfaktoren durchaus attraktiv. Aber als Don ihn zu überreden versuchte, den Mann von der Marine am nächsten Tag gleich noch einmal einzuladen, sagte Kurt, er solle die Sache vergessen.
Verzweifelt auf der Suche nach Halt, wie er war, entdeckte er schließlich die Religion. Er und Jesse waren im Lauf des Jahres 1984 unzertrennlich geworden, und dazu gehörte, dass die beiden zusammen in die Kirche gingen. Jesses Eltern, Ethel und Dave Reed, waren Born Again Christians, die Familie besuchte die Central Park Baptist Church, die auf halbem Weg zwischen Monte und Aberdeen lag. Kurt begann regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst zu erscheinen und ließ sich sogar hin und wieder am Mittwochabend bei der Jugendgruppe der Kirche blicken. Im Oktober ließ er sich in der Kirche taufen, eine Zeremonie, zu der nicht einer aus seiner Familie auftauchte. Laut Jesse hatte Kurt sogar eine für Konvertiten typische spirituelle Gotteserfahrung. „Eines Abends, wir gingen grade über die Brücke am Chehalis River, blieb er plötzlich stehen und sagte, er sei bereit, Jesus in sein Leben aufzunehmen. Er bat Gott, ‚in sein Leben zu treten‘. Ich erinnere mich noch genau, dass er über die Offenbarungen sprach und die Ruhe, von der jeder erzählte, der Jesus akzeptiert hat.“ Während der nächsten Wochen nahm Kurt den Predigerton eines wiedergeborenen Christen an. So begann er etwa Jesse zu tadeln, weil der Pot rauchte, die Bibel missachte und überhaupt ein lausiger Christ sei. Kurts Konversion fiel mit einer seiner drogenfreien Perioden zusammen; in der Geschichte seines Drogenkonsums wechselten einander Exzesse immer wieder mit Fastenperioden ab. Im selben Monat schrieb er seiner Tante Mari einen Brief, in dem er ihr seine Ansichten über Marihuana kundtat:
Ich habe gerade auf MTV Reefer Madness gesehen … Der Film stammt aus den Dreißigerjahren, und wenn die Leute auch nur einen Zug von der Teufelsdroge nahmen, flippten sie total aus, brachten einander um, hatten Affären, überfuhren mit dem Auto Unschuldige. Ein Teenager, der ein bisschen wie Beaver aus der Fernsehserie Leave it to the Beaver (Mein lieber Biber) aussah, musste wegen Mordes ins Gefängnis. Wow, das ist echt mehr, als ich vertrage. Ich meine, das Ganze war schon ziemlich übertrieben. Aber ich akzeptiere den Gedanken dahinter. Pot ist Scheiße. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, weil ich selbst eine Zeit lang fast so lethargisch war wie verschimmelter Käse. Ich glaube, das war wohl ein großes Problem zwischen Mom und mir.
Aber kaum hatte er den Brief abgeschickt und sich in seinem neuen Leben als Kirchenmitglied eingerichtet, ließ Kurt den Glauben auch schon wieder fallen wie eine Hose, die ihm zu klein geworden war. „Er war hungrig darauf gewesen“, sagte Jesse, „aber es war eine Übergangsperiode, er hatte nur einfach Angst.“ Als die Angst sich wieder legte, begann Kurt auch wieder Pot zu rauchen. Er ging zwar noch drei weitere Monate zur Messe, aber was er sagte, erzählte Jesse, „richtete sich immer mehr gegen Gott. Und dann war er plötzlich auf einem richtigen Anti-Gott-Trip.“
Jesses Eltern mochten Kurt gut leiden, und da er ohnehin schon so oft bei ihnen zuhause war, schlugen sie vor, er solle doch gleich zu ihnen ziehen. Sie wohnten auf dem Land, in North River, etwa vierzehn Meilen außerhalb von Aberdeen. Zu dieser Zeit schienen sich die beiden Jungs gegenseitig etwas geben zu können, was im Leben des jeweils anderen fehlte. Die Reeds diskutierten die Möglichkeit, Kurt könnte nach North River ziehen, und Don, Wendy und Jenny waren sich einig, es sei einen Versuch wert. Wendy sagte den Reeds, sie sei „mit ihrer Weisheit am Ende“, bei Don und Jenny hörte sich das sehr ähnlich an. „Dave Reed kam bei uns vorbei“, erinnerte sich Jenny, „und sagte, er könnte etwas für den Jungen tun. Die Reeds waren gläubige Leute, und Dave meinte, ihm die Disziplin geben zu können, die er sonst nirgendwo fand.“ Und Ethel Reed erklärte: „Wir hatten Kurt wirklich gern. Er war ein so netter Junge, er wirkte nur einfach so verloren.“ Im September packte Kurt wieder einmal seine Siebensachen, diesmal in einen Matchsack, und zog nach North River.
Die Reeds wohnten in einem Haus mit gut dreihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche, und die Jungs konnten in dem riesigen Obergeschoss praktisch tun und lassen, was sie wollten. Das Beste an dem Haus war seine Abgeschiedenheit – sie konnten ihre E-Gitarren bis zum Anschlag aufdrehen. Und sie spielten den ganzen Tag. Obwohl Dave Reed ein Jugendberater bei der Christian Youth war und mit seinem Schnurrbart und dem kurzen Haar ein bisschen wie Ned Flanders, der gottesfürchtige Nachbar aus Die Simpsons, aussah, war er beileibe kein Spießer. Reed hatte selbst zwanzig Jahre Rock ’n’ Roll gemacht und mit Kurts Onkel Chuck bei den Beachcombers gespielt, war also auch kein Unbekannter bei den Cobains. Das ganze Haus war voll gestopft mit Gitarren, Verstärkern und Platten. Dazu waren die Reeds auch weit weniger streng als Don. Sie ließen Kurt mit Buzz und Lukin nach Seattle fahren, um Black Flag, die richtungsweisende Punkband um Henry Rollins, zu hören. The Rocket kürte das Konzert zum zweitbesten des Jahres 1984, aber für Kurt kam ihm nur der Auftritt der Melvins auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt gleich. In jedem seiner späteren Interviews behauptete er, dies sei das erste Konzert seines Lebens gewesen.
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