Nach der Schule gab es Dringenderes zu erledigen; ganz obenan stand die Suche nach einer Wohnung. Buzz Osborne fuhr mit ihm nachhause, um seine Sachen zu holen. Wie Kurt schon geahnt hatte, unterschied sich dieser Krach mit seiner Mutter von den anderen davor; als sie nachhause kamen, war sie nach wie vor fuchsteufelswild. „Seine Mutter hat sich total aufgeführt, sie schrie rum, was für ein Loser er sei“, erinnerte sich Osborne. „Er hat nur immer wieder gesagt: ‚Okay, Mom, okay.‘ Sie hat klargestellt, dass sie ihn nicht mehr im Haus haben wollte.“ Als er seine über alles geliebte Gitarre und den Verstärker zusammenklaubte und seine Klamotten in ein paar Müllsäcke stopfte, begann für Kurt, physisch wie emotionell, die endgültige Flucht vor seiner Familie. Er war schon öfter davongelaufen, und schon kurz nach der Scheidung seiner Eltern war ihm Rückzug zur Gewohnheit geworden, aber fast immer war es seine Entscheidung gewesen. Diesmal war er machtlos, und der Gedanke, wie er über die Runden kommen sollte, machte ihm aufrichtig Angst. Er war siebzehn Jahre alt, im dritten Highschooljahr, machte aber die meiste Zeit blau. Er hatte noch nie einen Job gehabt, und seine ganzen Habseligkeiten steckten in vier Müllsäcken. Es war klar für ihn, dass er gehen würde, er hatte nur keine Ahnung, wohin.
War die Scheidung seiner Eltern der erste Verrat an ihm gewesen und die erneute Heirat seines Vaters die zweite – das dritte Mal, dass man ihn im Stich ließ, sollte ihn nicht weniger hart treffen. Wendy war fertig mit ihm. Ihren Schwestern gegenüber beschwerte sie sich, sie wisse „nicht mehr, was sie mit Kurt noch machen“ solle. Der Bruch mit Kurt verschärfte ihre Konflikte mit Pat, den sie zu heiraten gedachte; sie konnte es sich schwerlich leisten, Pat zu verlieren, schon allein aus ökonomischen Gründen. Kurt empfand die Situation so – und das womöglich zu Recht –, dass schon wieder einmal einer seiner Elternteile einem neuen Partner ihm gegenüber den Vorzug gab. Er fühlte sich ins Abseits geschoben, und die Erfahrung, aus dem Haus geworfen zu werden, sollte, durch seine früheren emotionellen Wunden verstärkt, immer wieder hochkommen. Er wurde dieses Trauma nie mehr ganz los, es lauerte immer direkt unter der Oberfläche, ein Schmerz, der ihn mit einer fast neurotischen Angst vor Knappheit und Mangel durch sein restliches Leben gehen ließ: Nie konnte er genug Geld kriegen, nie genug Aufmerksamkeit oder – was am wichtigsten war – Liebe, weil er wusste, wie schnell das alles wieder dahin sein konnte.
Sieben Jahre später sollte er über diese Zeit einen Song mit dem Titel „Something In The Way“ schreiben. Dieses „Etwas“ wird in dem undurchsichtigen Text nicht näher erklärt, aber es besteht wenig Zweifel daran, dass er es war, der da im Weg war. Aus dem Text geht hervor, dass der Sänger unter einer Brücke lebt. Wenn man Kurt um eine Erklärung bat, erzählte er immer die Geschichte, er sei zuhause rausgeworfen worden, von der Schule abgegangen und schließlich unter der Young Street Bridge gelandet. Diese Geschichte sollte schließlich einer der Ecksteine seiner Starbiografie werden, mit das stärkste Element von Kurts hausgemachter Mythologie, jenes Detail, das noch in der letzten Kurzbiografie, die irgendwo über Kurt geschrieben wurde, Erwähnung fand, und wenn sie nur einen Absatz lang war: Dieser Junge war so ungeliebt, dass er unter einer Brücke leben musste! Das war ein ebenso finsteres wie kraftvolles Bild, und es fand umso größere Resonanz, als Nirvana groß herauskamen und in Magazinen Fotos von der Unterseite der Young Street Bridge erschienen – in all ihrer widerlichen, stinkenden Pracht. Ein Troll, so konnte man angesichts dieser Fotos meinen, könnte unter so einer Brücke gehaust haben, aber doch unmöglich ein Kind. Die Brücke war gerade mal zwei Blocks vom Haus seiner Mutter entfernt, eine Entfernung, die, so Kurt, nicht mehr zu überbrücken war.
Die „Brückengeschichte“ war, wie schon die Episode „Gewehre gegen Gitarren“, von Kurt reichlich ausgeschmückt worden. „Er hat nie unter dieser Brücke gelebt“, beteuerte Krist Novoselic, den Kurt in diesem Jahr auf der Schule kennen gelernt hatte. „Er hing da rum, sicher, aber es war unmöglich, an dem schlammigen Ufer zu wohnen, nicht bei dem ständigen Auf und Ab von Ebbe und Flut. Das war reiner Revisionismus seinerseits.“ Seine Schwester ist derselben Überzeugung: „Er hat nicht unter der Brücke gelebt, nie und nimmer. Die Brücke war ein Treff, wo die Kids aus dem Viertel rumhingen und kifften, das ist alles.“ Wenn Kurt auch nur eine Nacht unter irgendeiner von Aberdeens Brücken verbracht haben sollte, so argumentieren Einheimische, dann unter der Sixth Street Bridge, eine weit größere Brücke eine halbe Meile weiter. Sie erstreckt sich über einen kleinen Canyon und wird von Aberdeens Obdachlosen frequentiert. Aber selbst in dieser Umgebung kann man ihn sich kaum vorstellen: Kurt war eine Heulsuse reinsten Wassers, und nur die wenigsten Heulsusen hätten wohl einen Frühling im Freien in Aberdeen überlebt, wo um diese Jahreszeit täglich geradezu monsunartige Regenfälle niedergehen. Trotzdem hat die Brückengeschichte ihre Bedeutung, und sei es nur deshalb, weil Kurt sie so oft und nachdrücklich erzählte. Irgendwann muss er wohl angefangen haben, sie selbst zu glauben.
Die Wahrheit darüber, wo er in dieser Zeit seine Tage und Nächte verbrachte, ist bitterer als selbst Kurts Brückenversion. Seine Odyssee begann auf Dale Crovers Veranda, wo er – eingerollt wie ein Kätzchen – in einem Karton schlief, der einmal eine Kühlschrankverpackung gewesen war. Als er den Leuten dort zu viel wurde, kamen ihm sein Einfallsreichtum und seine Gerissenheit zugute: Es gab in Aberdeen eine Menge alter Wohnblöcke mit Zentralheizung in den Fluren, und dorthin zog er sich nachts meist zurück. Er schlich sich spätabends ein, suchte sich einen breiten Flur, schraubte die Birne der Deckenlampe heraus und legte sich schlafen; morgens sah er zu, wieder aus dem Haus verschwunden zu sein, bevor die Leute zur Arbeit gingen. Am besten ist dieser Lebensabschnitt in einer Songzeile zusammengefasst, die er einige Jahre später schrieb: „Ich finde ihn erstaunlich, diesen Willen des Instinkts.“ Seine Überlebensinstinkte waren geschärft, sein Wille war stark.
Wenn alle Stricke rissen, ging Kurt mit einem anderen Jungen namens Paul White den Hügel hinauf zum Grays Harbor Community Hospital. Dort schliefen sie dann im Wartesaal. Kurt, der der Verwegenere oder vielleicht auch nur der Verzweifeltere der beiden war, stellte sich frech in die Schlange an der Cafeteria und ließ die Mahlzeiten für irgendwelche erfundenen Zimmernummern anschreiben. „Im Wartezimmer gab es einen Fernseher, da konnten wir den ganzen Tag glotzen“, erinnerte sich White. „Die Leute dort dachten immer, wir warteten auf jemanden, einen Patienten, der krank war oder starb, also stellten sie einem auch keine Fragen.“ Das war denn also die wahre Geschichte hinter der emotionellen Wahrheit von „Something In The Way“ und womöglich die größte Ironie in Kurts Leben – er war wieder dort gelandet, wo alles angefangen hatte, in dem Krankenhaus mit dem tollen Blick über die Bucht, in dem er siebzehn Jahre zuvor zur Welt gekommen war. Und jetzt schlief er dort im Wartezimmer wie ein Flüchtling, klaute in der Cafeteria Brötchen, spielte den untröstlichen Verwandten eines kranken Patienten – und war doch selbst krank vor Einsamkeit.
Nach etwa vier Monaten auf der Straße kehrte Kurt zu seinem Vater zurück. Es fiel ihm nicht leicht, und dass er überhaupt auf die Idee kam, wieder zu einem seiner Eltern zu ziehen, zeigt, wie verzweifelt und am Ende er war. Don und Jenny erfuhren, dass Kurt auf der Straße lebte, und fanden ihn auf einem alten Sofa in einer Garage gleich gegenüber von Wendys Haus. „Er war damals so wütend, auf alles, auf Gott und die Welt, und er wollte, dass jedermann dachte, keiner wollte ihn haben. Und so war es ja letztlich auch“, erinnerte sich Jenny.
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