Während ihrer Zeit im rosa Apartment hätte Jesse wahrscheinlich sogar für Kurt gemordet, eine Tatsache, die dieser weidlich ausnutzte. Eines Tages verkündete Kurt, sie sollten sich beide Irokesenschnitte zulegen. Sie gingen runter zu den Shillingers, Haarschneider wurden gezückt, und bald stand Jesse mit einem Irokesen da. Als Kurt dran war, sich rasieren zu lassen, erklärte er, es sei doch eine blöde Idee gewesen. „Einmal sagte Kurt, wenn er mir was auf die Stirn schreiben könnte, dann könnte ich ihm was auf die seine schreiben“, erinnerte sich Jesse. „Er nahm einen wasserfesten Filzer und schrieb mir ‚666‘ aufs Hirn, dann lief er davon. Ich war immer der Trottel, mit dem jeder seine Experimente machen konnte. Wenn es eine neue Droge gab oder ein unbekanntes Getränk, war ich immer der, der das Zeug als Erster probieren musste.“ Kurts Quälereien seinem besten Freund gegenüber hatten aber auch eine finstere Seite. Obwohl Jesse mindestens so viel Blödsinn trieb wie Kurt, hatte er in jenem Frühjahr seinen Abschluss an der Highschool geschafft. Eines Abends, als Jesse in der Arbeit bei Burger King war, riss Kurt die Bilder aus Jesses Jahrbuch, klebte sie an die Wand und malte rote Kreuze darüber. Der Ausbruch war mehr eine Zurschaustellung seines Selbsthasses als dass er etwas mit Kurts Gefühlen Jesse gegenüber zu tun hatte. Trotzdem beschloss Kurt – vielleicht in einer Welle von Scham über seinen Wutanfall –, Jesse aus der Wohnung zu werfen. Dabei interessierte ihn auch nicht, dass es Jesse war, der die Kaution für das Apartment aufgebracht hatte. Bald wohnte Jesse wieder bei seiner Großmutter, und Kurt war allein. Jesse hatte ohnehin vor, zur Marine zu gehen, und Kurt fühlte sich dadurch bedroht. Es war ein Schema, das sich bei ihm zeitlebens wiederholen sollte: Bevor er jemanden verlor, den er gern hatte, zog er sich – für gewöhnlich, indem er irgendeinen hanebüchenen Konflikt aufwarf – lieber als Erster zurück, um den Schmerz des Verlassenwerdens zu mildern.
Allein im rosa Apartment, schrieb Kurt weiter Songs, und obwohl es sich bei den meisten davon um kaum verschleierte Geschichten über Leute und Ereignisse um ihn herum handelte, waren viele davon humorig. In diesem Sommer schrieb er einen Song mit dem Titel „Spam“ – der von eben jenem Frühstücksfleisch in Dosen handelte – und einen anderen namens „The Class of 85“, einen Angriff auf Jesse und den Schuljahrgang, der seinen Abschluss nun ohne ihn gemacht hatte. Im Text hieß es: „Wir sind alle gleich, nur Fliegen auf einem Haufen Kacke.“ Obwohl seine Songs sich um eine isolierte kleine Welt drehten, dachte Kurt bereits in großen Maßstäben. „Ich werde irgendwann noch mal eine Platte machen, die größer wird als U2 oder R.E.M.“, prahlte er Steve Shillinger gegenüber. Diese beiden Bands gefielen Kurt besonders, außerdem konnte er einem endlos darüber vorschwärmen, wie toll die Smithereens waren, obwohl er diese Einflüsse Buzz gegenüber geflissentlich verschwieg, aus Angst, gegen den Punkkodex zu verstoßen, laut dem Popmusik grundsätzlich nichts taugte. Er las jedes Fanzine und jedes Musikmagazin, das er in die Finger bekam – das waren in Aberdeen nicht eben viele –, und schrieb lange imaginäre Interviews mit sich selbst für nicht existente Magazine. Kurt und Steve dachten darüber nach, selbst ein Fanzine herauszugeben, und brachten schließlich sogar eine Nullnummer zustande. Steve stieg jedoch aus dem Projekt aus, als ihm klar wurde, dass Kurt positive Rezensionen über Platten schrieb, die er sich noch nicht einmal angehört hatte. Kurt sprach auch davon, ein eigenes Plattenlabel aufzumachen, und eines Abends nahmen er und Steve einen Freund namens Scotty Karate auf, der einen gesprochenen Monolog vortrug. Wie bei so vielen seiner Ideen in jener Zeit kam jedoch nie etwas dabei heraus.
Es fehlte einfach das Geld, sei es für ein Fanzine oder für ein Plattenlabel, allein die Miete aufzubringen war schwierig genug. Zwei Monate nachdem Jesse ausgezogen war, wurde Kurt auf die Straße gesetzt. Sein Vermieter kam in die Wohnung, während Kurt nicht zuhause war, warf seine paar Habseligkeiten – inklusive der gestohlenen Kreuze und Dreiräder – in Kartons und stellte sie raus auf die Straße.
Zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren stand Kurt damit ohne Dach über dem Kopf da. Einmal mehr zog er in Betracht, zur Marine zu gehen. Trevor Briggs hatte sich zum Militär gemeldet und drängte Kurt mitzumachen, sodass sie vom Buddy-System der Navy Gebrauch machen könnten, das es ihnen ermöglichen würde, wenigstens die Grundausbildung zusammen zu absolvieren. Die Arbeitslosigkeit in Grays Harbor war noch gestiegen, und die Möglichkeiten für einen Achtzehnjährigen ohne Schulabschluss waren äußerst begrenzt. Kurt ging also zum Rekrutierungsbüro der Marine in der State Street und saß drei Stunden über einem Eignungstest für Berufsanfänger. Er bestand ihn, und die Navy war bereit, ihn zu nehmen – später dann behauptete Kurt, das beste Ergebnis gehabt zu haben, das je bei diesem Test erzielt worden war, aber das ist kaum glaubwürdig, da die Prüfung auch Mathematikaufgaben umfasste. Wie schon beim ersten Mal überlegte Kurt es sich anders, als es dann an den Beitritt selbst ging.
Meistens schlief Kurt auf dem Rücksitz des Wagens von Greg Hokansons Mutter, einem ramponierten Volvo, den sie im Scherz „Vulva“ nannten. Mit dem Wetterumschwung im Oktober wurden auch die Nächte auf dem Autositz immer unfreundlicher und elender. Aber Kurt fand bald einen neuen Wohltäter bei den Shillingers, der sich nach einigem Zureden bereit erklärte, ihn aufzunehmen.
Lamont Shillinger war Englischlehrer in Weatherwax, und wie Dave Reed kam er aus einer religiösen Familie. Er war zwar schon Jahre zuvor bei den Mormonen ausgetreten, versuchte jedoch nach wie vor „freiberuflich“, wie er sich ausdrückte, „ein anständiger Mensch zu sein“. Es gab noch weitere Parallelen zum Leben bei den Reeds: Die Shillingers aßen gemeinsam zu Abend, verbrachten Zeit als Familie miteinander und unterstützten die musikalischen Bemühungen ihrer Söhne. Kurt wurde in die Familiengemeinschaft eingebunden und bekam, wie alle anderen auch, Aufgaben im Haushalt zugeteilt, die er ohne Murren erledigte, dankbar, bei etwas dabei zu sein. Die Shillingers hatten etwas wenig Platz im Haus, weil sie selbst schon sechs Kinder hatten, darum nächtigte Kurt auf einem Sofa im Wohnzimmer und verstaute seinen Schlafsack tagsüber dahinter. Er verbrachte Thanksgiving und den Weihnachtsmorgen 1985 bei den Shillingers. Lamont kaufte Kurt eine neue Levi’s, die er auch dringend brauchen konnte. Später am Weihnachtstag besuchte Kurt Wendy, die vor kurzem seine Halbschwester Brianne zur Welt gebracht hatte. Das neue Baby hellte die Stimmung im Haus der O’Connors etwas auf, über eine Rückkehr von Kurt wurde aber nie gesprochen.
Im Dezember 1985 begann Kurt einige der Songs zu proben, die er geschrieben hatte; Dale Crover stand am Bass, Greg Hokanson saß an den Drums. Es war seine erste richtige Band, sie hießen Fecal Matter. Er konnte Crover überreden, ihn zu Tante Mari zu begleiten, um ein paar der Songs aufzunehmen. „Er kam mit einem dicken Notizbuch voller Texte“, erinnerte sich Mari. „Ich zeigte ihm, wie man dies und das einstellte, wie man die Bandmaschine bediente, und er machte sich gleich an die Arbeit.“ Kurt nahm zuerst die Stimme auf, dann spielten er und Crover Gitarre, Bass und Drums über seinen Gesang. Mari machte sich ein bisschen Sorgen wegen des Texts zu „Suicide Samurai“, tat ihn dann aber als typisches Teenagergedöns ab. Außerdem nahmen die Jungs „Bambi Slaughter“ auf (die Geschichte eines Jungen, der die Eheringe seiner Eltern versetzt), „Buffy’s Pregnant“ (womit Buffy aus der TV-Serie Lieber Onkel Bill gemeint war) sowie die Songs „Downer“, „Laminated Effect“, „Spank Thru“ und „Sound of Dentage“. Zurück in Aberdeen, zog Kurt mit dem Tapedeck der Shillingers Kopien der Aufnahmen. Das Band in der Hand zu halten war für ihn ein greifbarer Beweis dafür, dass er Talent hatte – es war das erste Mal, dass die Musik ihm so etwas wie Selbstwertgefühl gab. Trotzdem lösten Fecal Matter sich auf, ohne auch nur einen einzigen Gig gespielt zu haben.
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