»Erst nach der Einschulung«, antwortete Heiko anstelle seiner Frau. »Und dann wollen wir gleich noch vor dem Winter das Dach neu decken.«
»Ja, das hatte unser Vater auch immer vorgehabt«, erwiderte Alexander. »Aber zumindest hat er es all die Jahre in Ordnung gehalten. Rein geregnet hat es nie. Wenn ein Ziegel lose war, hat er ihn sofort ersetzt. Da liegen noch welche hinten im Garten. Doch die werdet ihr dann wohl nicht mehr brauchen.« Auch er hatte sich direkt dem Duzen angeschlossen.
Noch einmal verabschiedeten sich alle mit Handschlag.
»Vielleicht sieht man sich ja mal gelegentlich«, meinte Franziska. Da sie nur zehn Kilometer entfernt wohnte, fuhr sie oft in die Stadt ihrer Kindheit.
Sie blickten den dreien hinterher und wollten schon zum Auto gehen, als Alexander seine Schwester festhielt.
»Was hast du heute noch vor?«
»Nichts weiter, ich habe Urlaub.«
»Dann würde ich gerne einen Stadtbummel machen. Es ist herrliches Wetter und ich war seit Ewigkeiten nicht mehr zu Fuß hier. Gibt es die alte ›Flora‹ noch?«
Franziska nickte. »Klar, der Laden heißt noch so und ist noch an derselben Stelle.«
»Dann kaufen wir nachher ein paar Blumen und fahren zum Friedhof. Aber erst lass uns ein Stück laufen.«
Sie wandten sich vom Wipperufer ab und gingen Richtung Markt. In der alten Durchfahrt des Saigertors blieb Alexander stehen. Wie so viele, die längere Zeit nicht in der Stadt gewesen waren, brachte er seine Verwunderung zum Ausdruck.
»Und hier ist einmal der gesamte Fahrverkehr durchgegangen! Man kann es sich kaum noch vorstellen.« Franziska stimmte ihm zu. »Da hast du recht. Der Markt ohne den Durchgangsverkehr ist eigentlich ganz schön, auch wenn er durch die fehlenden Häuser hier hinten ein bisschen sein Gesicht verloren hat.« Sie hatte bei den Bildern vom Vater auch alte Postkarten aus Hettstedt gefunden und die Ansichten verglichen.
»Aber der Rest sieht schon noch so aus, wie in unserer Kindheit«, meinte Alexander, »oder wenigstens fast«, schränkte er sofort ein. Denn er erkannte beim Weiterlaufen, dass die Häuser zwar noch an der alten Stelle standen, sich aber zum Teil schon rein äußerlich, auf jeden Fall aber innerlich, verändert hatten. Naja, dachte er, schon die damals berühmte Gruppe »Karussell« sang einst in ihrem Song »Als ich fortging«: Nichts ist unendlich… nichts ist von Dauer…
»Siehst du, die ›Flora‹ gibt es noch«, riss ihn Franziska aus seinen Gedanken. »Wollen wir gleich Blumen kaufen
oder erst was essen?« Der Blick zur Uhr an der Kirche zeigte ihnen, dass es auf Mittag zuging.
»Gute Idee!«, stimmte ihr Alexander zu. »Wir drehen die Marktrunde fertig und gehen dann rüber zum Ratskeller.«
Eine Viertelstunde später saßen die Geschwister an einem Tisch und blätterten durch die umfangreiche Speisekarte. Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten, nippte Franziska an ihrer Weinschorle.
»Weißt du noch, als wir damals im Ratskeller waren mit Onkel Pierre und Tante Charlotte?« Versonnen blickte sie in eine imaginäre Weite. Pierre war im Krieg als Gefangener oder Zwangsarbeiter in Hettstedt gewesen, so genau wusste sie das gar nicht mehr. Entgegen aller Verbote hatte sich zwischen ihm und ihrem Opa Fritz eine enge Freundschaft entwickelt. Drei Jahrzehnte später unternahm Pierre mit seiner Frau eine Reise in den ostdeutschen Harz und stand eines Tages vor ihrer Tür. Der Opa war leider schon tot, doch Oma Klara und ihren Vater, den Pierre immer »meine kleine Franzchen« nannte, konnte er noch einmal in die Arme schließen.
»Na klar!«, bestätigte Alexander sofort. »Das war doch der Hammer damals, als die beiden plötzlich aufgetaucht sind.« Er erinnerte sich lebhaft an die Tage mit dem französischen Besuch. »Du hast gebettelt, dass wir beide mitdurften zum Essen. Und ich habe mich ausnahmsweise gut benehmen müssen.« Alex griente. »Mann, ist das lange her. Das war in den Siebzigern.« Er rechnete. »Also mindestens 35 Jahre. Hast du noch Verbindung?«
Franziska schüttelte traurig den Kopf. »Ich glaube, der Onkel lebt nicht mehr. Na gut, er wäre jetzt so um die Neunzig. Vor reichlich zehn Jahren kam mein Brief als nicht zustellbar zurück. Ich habe es noch einmal mit einer Weihnachtskarte versucht, das gleiche Ergebnis. Seit dem habe ich kein französisches Wort mehr zu Papier gebracht.« Vor allem des Onkels wegen hatte Franziska die französische Sprache gelernt. Schade, dass sie nie eine Verbindung zu dessen Sohn oder den Enkelkindern aufgenommen hatte.
Im richtigen Moment, ehe Franzi zu sentimental wurde, brachte der Kellner das Essen. »Lassen Sie es sich schmecken!«
Eine halbe Stunde später traten sie hinaus auf den sonnenüberfluteten Marktplatz. Alexander ließ noch einmal die Augen über all das so Vertraute schweifen, die Kirche, das Rathaus, das Bergbaudenkmal und das Kaufhaus, in dem man immer noch Klamotten erwerben konnte. Dann gingen sie hinüber zum Blumenladen, ließen einen Strauß binden und liefen zurück zum Parkplatz.
»Du kannst gleich von hier aus hoch zum Friedhof fahren«, wies Franziska ihren Bruder hin, als sie merkte, dass er blinkte, um zur Hauptstraße abzubiegen.
»Stimmt ja«, fiel es nun auch Alexander wieder ein. Sie fuhren die schmale Straße hinauf am alten Krankenhaus vorbei.
»Hier habe ich mal eine Nacht zur Beobachtung bleiben müssen«, dachte Franziska an diesen Tag vor wohl fast vierzig Jahren.
»Erinnere mich nicht daran!«, stöhnte Alexander. Auch vor seinen Augen war der Tag sofort wieder präsent.
»Als ich aus der Schule kam, waren die Eltern beide zuhause, das allein erschien mir schon komisch. Und dann höre ich, wie sie was von einem Unfall mit einem Bus erzählen und dass du im Krankenhaus bist. Ich dachte wirklich im ersten Moment, der Bus hat dich überfahren.« Er schüttelte sich innerlich. »Was sie da noch von irgendwelchen Erinnerungen faselten, konnte ich erst einordnen, als ich den Zeitungsartikel gelesen hatte, an dem Tag als Mutti starb.« Seine Stimme wurde brüchig. Konnte man nicht nur schöne Erinnerungen haben? Der frühe Unfalltod seiner Mutter holte ihn immer wieder ein.
Sie stiegen aus dem Auto und betraten den Friedhof. Hand in Hand liefen sie den breiten, von alten Bäumen gesäumten Weg zum Familiengrab der Familie Zandler. Hier hatte schon Opa Fritz die letzte Ruhe gefunden, ihm folgte seine Frau, Oma Klara. Nur wenige Jahre später wurde die Urne der Mutter beigesetzt und zuletzt die des Vaters. Sie füllten eine Vase aus der Gießkanne mit Wasser, das sie unterwegs am Brunnen geschöpft hatten, und verteilten den Rest über die Pflanzen. Noch blühten die Sommerblumen in verschwenderischer Pracht, doch bald wurde es Zeit, an den Herbst und den Winter zu denken. Franziska las die ersten herabgefallenen Blätter auf. Es war ein ewiger Kreislauf vom Frühling bis zum Winter, von der Geburt bis zum Sterben, sinnierte sie. Franzi lehnte sich an Alex. Sie hatten nun nur noch sich und ihre Erinnerungen, die lustigen und die traurigen.
»Wir könnten doch wieder einmal etwas gemeinsam unternehmen, ich meine mit Michael und Heidrun«, schlug Alexander vor. Auch ihm schienen angesichts des Grabes ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen.
»Warum nicht«, stimmte Franziska sofort zu. »Im September hat Michael eine Woche Urlaub und ich kann auch bestimmt noch ein paar Tage frei nehmen vor der Rübenernte. Das würde passen. Sprich mal mit deiner Frau und dann telefonieren wir.«
Читать дальше