In der Weinsteige
Wir sitzen in der Weinsteige bis kurz vor Mitternacht, da fällt meiner Schwiegermutter ein: »Ich hab dir ja gar nicht das Krankenhaus gezeigt, in dem Dania geboren wurde. Ihren Kindergarten auch nicht. Auch nicht ihre Grundschule, die Realschule, das Gymnasium …
»Das machen wir ein anderes Mal« sage ich. »Es ist schon recht spät«
»Aber nach Echterdingen auf den Flugplatz raus könnten wir doch noch, Olli, da gibt es seit gestern …
»Es ist Zeit, heim zu fahren« erwidere ich hartnäckig.
»Noch ein allerletztes Glas Champagner, Olli«
Meine Schwiegermutter streckt ihre rechte Hand in die Luft, ruft: »Herr Ober, Herr Ober …
Es ist schon weit nach Mitternacht, als wir in Feuerbach ankommen. Gisela lässt sich auf das Sofa in unserem Wohnzimmer sinken. »Und jetzt noch ein Bier, Olli«
Dania legt ihr Strickzeug aus der Hand, eilt in die Küche, holt drei Flaschen Stuttgarter Hofbräu aus dem Kühlschrank, drei Pilsgläser aus der Vitrine, eine Tüte mit Salzbrezeln aus dem Vorratsschrank.
»Mach du das mal, Schatz« sagt sie und drückt mir den Flaschenöffner in die Hand. Sie setzt sich neben ihre Mutter, legt den Arm um ihre Schultern: »Jetzt erzähl mal, meine liebe Mami«
Meine Schwiegermutter ist eine exzellente Erzählerin. Sie erzählt immer sehr ausführlich. Etwas übertrieben manchmal, wie ich meine. Und sie bleibt auch nicht immer bei der vollen Wahrheit.
»In der Weinsteige ist es einfach wunderbar. Himmlisch. Gigantisch. Exklusiv. Zauberhaft. Du wirst es nicht glauben, Dania, aber wir wurden schon erwartet. Der Chef persönlich hat uns begrüßt und zu unserem Tisch geführt«
»Ach? Das ist aber nett«
»Es war wunderschön eingedeckt, Dania. Mit weißen Damastservietten, weißen Kerzen und schneeweißen Röschen in schneeweißen Väschen. Wie bei einer Hochzeit! Das Silberbesteck hättest du einmal sehen sollen. Das hatte ein traumhaftes Design. Old English. Ich glaube, es ist das gleiche Besteck wie die Royals bei ihren Festlichkeiten benutzen«
»Ach?« sagt Dania staunend. »Wie bei den Festlichkeiten der Royels?« ihr Blick sieht verträumt aus. »Schneeweiße Röschen in schneeweißen Väschen. Wie schön, Mama«
»Und überall standen Kellner herum« blubbert meine Schwiegermutter weiter. »Mit schwarzen Fräcken, weißen Hemden, schwarzen Fliegen und schwarzen Lackschuhen. Die kamen sofort angeflitzt, wenn ich einen Schluck getrunken hatte, haben nachgefüllt und immer wieder nachgefragt, ob auch alles in Ordnung ist«
»Ja, und das immer wieder Nachschenken hat mich eine ganze Stange Geld gekostet« werfe ich ein. Was mir einen strafenden Blick meiner Ehefrau einbringt.
»Also, die haben ein Ambiente in der Weinsteige, das ist unglaublich« Und mit einem Seitenblick auf mich sagt sie: »Es ist zwar teuer dort, aber einmal im Jahr, zum Schwiegermuttertag, geht das schon, gell, Olli«
Ich nicke, was mir ein liebevolles Lächeln meiner Ehefrau einbringt. Und meine Schwiegermuter fährt unbeirrt in ihren ausschweifenden Erzählungen fort. »Die haben hinreißende Blumenarrangements, Dania. Die solltest du einmal sehen. Ganz neue Impulse. Die Frau des Hauses gestaltet sie selbst. Sie liebt große Blüten, Gräser, Blätter. Sie hat ganz besondere Farbzusammenstellungen. Alles wirkt so edel. Die Frau hat ein Händchen für Gartenkunst, Dani«
»Woher weißt du das denn alles, Mami?«
»Ich habe mich lange mit ihr unterhalten. Eine ganz patente Frau. Wir haben uns zufälligerweise auf der Toilette getroffen. Selbst dort stehen Blumen, Dani, stell dir das einmal vor«
»Ach?«
»Sie hat gerade verwelkte Blümchen entsorgt. Eigentlich wollte sie Floristin werden, aber dann hatte sie ihren Mann kennengelernt, die Lehre abgebrochen, als sie schwanger wurde. So wie das Leben einem manchmal halt mitspielt. Und stell dir einmal vor, Dani, nachdem die Kinder groß waren, hat sie …
Ich habe die Lebensgeschichte der Wirtsleute nicht bis ans Ende mitbekommen, bin vor Erschöpfung auf dem Sofa eingeschlafen.
7. Kapitel
»Klärchen ist erkältet. Sie wird ein paar Tage bei mir schlafen«
Ich sehe von den »Stuttgarter Nachrichten« hoch, schaue in die besorgten Augen meiner Schwiegermutter.
»Eine Erkältung in dem Alter darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen, Bub«
Ich mag es nicht, wenn Gisela mich »Bub« nennt, habe ihr das auch schon des Öfteren gesagt, was sie, wie noch so einiges, einfach ignoriert. So würde ich zum Beispiel gerne allein und in aller Ruhe frühstücken. Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mir am frühen Morgen schon die Ohren voll quatscht.
»Bei älteren Menschen kann so eine Erkältung lebensgefährlich werden, Olli«
»Du übertreibst wieder einmal maßlos, Gisela«
»An einer Grippe-Infektion sterben jährlich 10.000 Menschen, Olli«
»Aber nicht in Deutschland«
»Sehr wohl in Deutschland. 2009 waren es sogar 19.000 Grippe-Tote, Olli«
Ich lege die Zeitung beiseite: »Und woher weißt du das?«
»Influenza ist eine heimtückische Sache, Olli. Zuerst merkt man ja gar nicht, dass man krank ist. Aber man ist schon ansteckend. Und binnen ein paar Stunden, wie schon gesagt, Olli, das ist eine heimtückische Sache und bei älteren Menschen …
Ich vertiefe mich wieder in die Zeitung.
»Hörst du mir eigentlich zu, Olli?«
»Ich lese Zeitung«
Gisela kramt einen Notizblock und einen Schreiber aus der Tischschublade. Sie sieht mich nachdenklich an, bevor sie zu schreiben anfängt. So nachdenklich, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nie eine Hühnersuppe gekocht. Sie kratzt ihre Stirn. Dann kommt die Erkenntnis: »Wir brauchen ein Suppenhuhn, Olli«
»Aha?«
»Eine Sellerieknolle. Eine Stange Porree. Ein Bund Petersilie. Nelken, Muskat, Möhren …
»Lass mich in Ruhe meine Zeitung lesen«
Sie schiebt mir den Einkaufszettel zu. »Hühnersuppe ist Medizin für Leib und Seele. Du wirst sehen, wie schnell deine Oma wieder auf dem Damm ist, Olli«
Und tatsächlich hat sich Oma in drei Tagen gesund gelöffelt. Aber kaum von der Grippe genesen, bekommt sie urplötzlich Schwierigkeiten beim Laufen. Durchblutungsstörungen höchstwahrscheinlich, meint meine Schwiegermutter. Und dass meine Oma zum medizinischen Notfall werden könnte. Und dass …
Aber um die Geschichte kurz zu halten, meine Oma schläft deswegen immer noch in der Erdgeschosswohnung, meine Schwiegermutter immer noch in unserem Kinderzimmer. Damit habe ich eigentlich kein Problem, aber Gisela leidet unter Schlafstörungen, steht alle halbe Stunde auf, um pinkeln zu gehen.
Sie schleicht sich im Dunklen über den Flur ins Badezimmer und bringt es tatsächlich bei jedem Klo-Gang fertig, mit dem Kopf an die Wand zu knallen, ihre Beine am Tablettenschrank oder sonst wo anzuschlagen. Die Klospülung benutzt sie aus Rücksicht auf uns nicht. Leider ist ihre Trefferquote äußerst gering. Und irgendwann kriegt auch der friedlichste Mensch eine Krise. Ich bin sehr geruchsempfindlich. Und irgendwann geht mir der Hut hoch.
»Der Kammerberger-Urin-Gestank in unserem Badezimmer ist unerträglich« schimpfe ich. »Ein Ziegenstall ist ein Scheißdreck dagegen. Wenn selbst die Betätigung der Klo-Spülung zum Problem wird, dann läuft aber …
»Du magst meine Mama nicht!« flüstert Dania. Sie knipst die Nachttischlampe an und schaut auf den Wecker. Es ist 3 Uhr in der Früh.
Dania greift nach dem Buch auf dem Nachtisch.
»Du willst lesen?« frage ich. Und Dania sieht mich so unendlich traurig an, dass ich es kaum ertragen kann. Schlagartig habe ich ein schlechtes Gewissen. Hätte ich doch nur meine Klappe gehalten. Es waren wieder einmal die falschen Worte zur falschen Zeit. Diese Nacht ist wieder einmal gelaufen, fürchte ich. Und ich sollte Recht haben.
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