»Nicht telefonisch. Fahre mit ihm und versuche heraus zu finden, ob er unseren verwundeten Maschinenmenschen kennt. Wo er ihn abgeholt hat undsoweiter. Wahrscheinlich war das aber nur ein von Gewissenbissen geplagter Gerichtsvollzieher oder so.«
»Erstens gibt ´s die nicht, zweitens, glaub ich, kommen die immer morgens. Also was soll ich tun?«
»Ist die Denkmalgeschichte draußen?«
»Seit langem.«
»Okay, dann versuch es mit dem Taximenschen. Schaden kann es nicht.«
Er legte auf. Die junge Frau in der etwa zwanzig Meter entfernten Küche aß das eilends Gekochte aus einem Plastikschälchen. Grotejohann zündete sich eine Zigarette an. Der reine Irrsinn, die Menschenopfer-Geschichte. Überhaupt Irrsinn, womit sich vernunftbegabte Wesen beschäftigten. Mit angeblich heilenden Steinen, Hexenpraktiken, Satanismus und Erleuchtung, es gab wenig, was die Leute ausließen, und alles, um die vermeintlich unausweichlich geschundene Seele wieder auf Vordermann zu bringen. Auch er sehnte sich danach, den letzten Bericht zu schreiben, sich nach Andalusien abzusetzen, wo er die verbleibenden Lebensjahre Bücher fabrizierend und zwanglos lebend zu verbringen gedachte. Ohne Stress, ohne Gejagtsein, mit kleinem Boot, süßer Freundin und Hund, ganz spießbürgerlich und vor allem in seliger Ruhe. Wenn dieser verdammte Deskin ihn nur nicht so elend auf den Topf gesetzt hätte!
Er seufzte.
Als Kind hatte er davon geträumt, als allseits bewunderter Starreporter durch die Welt zu reisen. Reporter war er auch geworden, aber über Westfalen war er nie weit hinausgekommen. Und mit der Bewunderung war es auch nicht so weit her. Journalisten, empfand er schmerzlich, standen in der Ansehensskala noch hinter den Müllwerkern. Nach einundzwanzig Jahren abhängiger Arbeit in Lokalredaktionen war der Traum von der großen weiten Welt einer immer nervigen Alltäglichkeit und dem Wunsch nach einem Zustand gewichen, in dem er wenigstens das Gefühl einer gerechteren Bezahlung haben konnte.
Er nahm eine Veränderung wahr. Das Licht in der Küche war erloschen. Das Mädchen erschien im Wohnzimmer, machte sich am Fenster zu schaffen. Ein Lamellenvorhang fiel nach unten. Wenig später tanzten blaue Lichtreflexe auf den metallenen Fächern. Die Gurtner hatte es sich offensichtlich vor dem Fernseher bequem gemacht.
Grotejohann gähnte und warf den Zigarettenrest auf den Parkplatz.
Eine halbe Stunde noch, sagte er sich, dann verabschiedest du dich für heute. Er lehnte sich zurück und griff mit schlechtem Gewissen nach einer weiteren Zigarette.
Die Strecke über Bad Oeynhausen zu seinem Haus in Uffeln fuhr Reineking, ohne sich später daran erinnern zu können. Der Tag ließ sich nicht wie gewöhnlich abschalten, die Bilder blieben, die Gedanken, der Geruch des verbrannten Fleisches, die Kälte und Müdigkeit und ganz besonders die Vorstellung, wie das Opfer gelitten haben musste, als das Feuer es im wahrsten Sinne des Wortes bis auf einen kümmerlichen Rest verzehrte . Das Private wollte sich trotz der alltäglichen Rituale nicht einstellen, die Fantasie drängte die Objektivität des Kriminalisten vehement an den Rand, erzeugte Gefühl bewegende und schreckliche Bilder, die stärker als Routine und Abgebrühtheit waren.
Magdalena, seine Tochter, hatte im Wohnzimmer die Rollos heruntergelassen. Das Signallämpchen des Anrufbeantworters schnitt rotleuchtend ins Dunkel. Reineking schaltete das Licht ein, kniff die Augen zusammen und entdeckte den linierten Zettel auf dem Fußboden.
Drei rote Herzchen. IHDL.
»Ich dich auch«, murmelte er und warf einen Blick auf ihr Foto, das in einem Fach des Bücherregals in Silber gerahmt stand und sie im Alter von neun Jahren mit langem blondem Haar und die Lippen wölbender Zahnspange zeigte. Ein trotziger Blick, vorgerecktes Kinn. Sie hatte geweint, erinnerte er sich, weil sie mit der verunstaltenden Zahnkorrektur nicht fotografiert werden wollte. Ihre Mutter hatte sie wie üblich bestochen und es wir haben uns geeinigt genannt, hatte mit der alten Pentax geknipst, weil Omi und Opa doch drauf warten und ich ihnen versprochen habe, dass sie regelmäßig die Bilder kriegen.
Neben den drei Herzen befand sich ein dünner Pfeil. Reineking wendete den Zettel. Fein säuberlich waren Anschrift und Telefonnummer in Magdalenas zierlicher Schrift niedergeschrieben, darunter: »Ich rufe dich an, sobald wir eingetroffen sind, und denke mal darüber nach, was du heute beim Frühstück versäumt hast!!!«
Er legte den Zettel neben das Telefon, drückte nach kurzem Zögern die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters und hörte die beiden Nachrichten ab. Eine Saskia für Magdalena mit guten Grüßen für die Reise und ruf zurück, wenn du wieder im Lande bist, einer für ihn: »Hör zu, du Wichser, da läuft einer rum, der dir die Eier mit ´nem stumpfen Dolch abschneiden wird. Ort und Zeit bestimmen wir, du Drecksau, du dreckige!«
»Du mich auch«, sagte Reineking und löschte die Meldungen. Drohanrufe nahm er schon seit langem nicht mehr ernst, obwohl es im Präsidium eine Vorschrift gab, jeden einzelnen aufzuzeichnen, und zwar mit der Begründung, das unter zehn Bluffern ein ernst zu nehmender Irrer sein könnte. Den heutigen ordnete er den Spinnern zu.
Durch die große Wohnzimmerscheibe sah er das riesige Kraftwerk mit den drei bis in die Wolken ragenden Schornsteinen. Wind zerrte an den Büschen im Garten. An der Wäscheleine schwang der blaurote Klammerbeutel neben flatternden Socken, die er als seine identifizierte.
Er ließ den Bademantel im saunaartig aufgeheizten Badezimmer und stieg über die schmale Wendeltreppe ins großzügig ausgebaute Obergeschoss. Als er das ehemalige, seit dem tragischen Geschehen von ihm verschlossene Schlafzimmer passierte, beschlich ihn zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das beklemmende Gefühl, von ihr aus wunden, anklagenden Augen beobachtet zu werden. Überdeutlich sah er ihr leidendes Gesicht, diese trotz der darin zuckenden Schmerzen wunderschöne Maske aus Schuld und Anklage, die - je mehr sich ihr Ende näherte - verschlossener wurde, wie ihre Sinne, wie ihr Körper, der selbst dann zusammen zuckte, wenn bei Tisch ein Glas oder ein Teller zu reichen war.
Wie bei einem gefangenen Vogel begann dann ihr Herz zu rasen, die Halsschlagadern schlugen sichtbar unter der hektisch geröteten Haut, in die Augen trat dieses unstete Flackern, wie bei einem verzweifelten, in die Enge getriebenen Tier, das vergeblich einen Fluchtweg sucht. Nur das Korsett ihrer seit Kindesbeinen von strengen Eltern eingeübten Disziplin verhinderte den Ausbruch ihres seelischen Drucks, und das nur, weil Magdalena anwesend war. Dass sie ihn fürchtete, und dass er der Anlass ihrer Panikattacken war. Aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte und die sie trotz häufiger Versuche nicht erklären wollte.
Die ersten Anzeichen dieser Entwicklung waren etwa ein Jahr vor der Katastrophe aufgetreten, als sie nach Jahren fanatisch betriebener Selbsterfahrungsabenteuer, esoterischer Erkundungen und spiritueller Experimente zurück in den Schoß einer Kirche fand, die sich Der Hort der auserwählten Kinder Gottes nannte und die ihre als Bibelstunden bezeichneten Gottesdienste im Hinterhof einer Lackiererei abhielt. Für ihn war es nichts weiter als eine weitere Stufe auf der Treppe der Suche nach der mir innewohnenden göttlichen Kraft. So etwas wie die neue und endgültige Diät, die sie dauernd aus sportlichem Ehrgeiz oder spielerisch-ironisch probierte und mit der nicht nur die Pfunde, sondern auch die jung machende Gelassenheit des Seins erreicht werden konnte. Jedenfalls bis zur nächsten aus den Verlagshäusern heraus schwappenden und von ihr trotz ihrer spöttischen Kommentare sehr ernst genommenen Welle. Für seine attraktive und keinesfalls übergewichtige Frau war dieses Neue offenbar die Erfüllung, der Weg und das Ziel zugleich. Auf Kosten des Salzes in der Suppe, der bis dato ohne nennenswerte Krise geübten beständigen und bisweilen geradezu eruptiven Freude an der Sexualität.
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