Das ergriff mich zutiefst. Ewig wollte ich in dieser Kapelle bleiben; die Stunden in ihr sind sicherlich zum Fundament meines ganzen Seins geworden. Ich schaute - und wurde angeschaut. Ich war gemeint.
Nun ja, ich kann mir vorstellen, dass sich nun bestimmt einige Herzen vor Peinlichkeit zusammengezogen haben, die eine oder andere Augenbraue hochgezogen wurde, meine Geschichte nun mit spitzen Fingern in den Händen gehalten wird – denn, nun ja, jede Religiosität erscheint heute prinzipiell irgendwie als verdächtig und jede Beschreibung spiritueller Erfahrungen als obskur, aber so ist es eben: Wenn ein Priester seine Erlebnisse erzählt, muss davon die Rede sein!
In den Semesterferien des ersten Sommers fuhr ich allein nach Hiddensee. Ich sehnte mich nach dem Meer und hielt es im Inneren des Landes nicht mehr aus. Ich lief den Sandstrand entlang, mit den Füßen in den Wellen, wollte zum Horizont am Ende der Insel gelangen.
Dann lag ich nackt in den Dünen und blickte in von Strandhafer umkränzte Himmelsausschnitte. Ich aß nach Sommer duftende, überreife Pfirsiche. Ihr Saft lief mein Kinn herab, über Hals, Schlüsselbein und Brust, tropfte auf die Seiten meines Buches, von dem ich nicht einmal eine halbe Seite gelesen hatte; überall schienen Sand und Wind und Pfirsichsaft zu sein und ich wurde erregt wie noch nie in meinem Leben. Ich vergrub die Kerne im Sand und musste über die Vorstellung lachen, dass eines Tages in den Dünen Pfirsichbäume mit salzigen Früchten sprießen würden.
Dann sprang ich die Dünen herab und rannte windumtost und nackt - mich kennt hier ja keiner, so dachte ich - in die sich brechenden Wellen des Meeres. Die Gischt spritzte auf und ich ließ mich von der Brandung umgarnen. Das Meer und ich. Es fühlte sich so natürlich an, so vertraut, es drückte sich an mich und wollte meine Nähe, zog sich aber sofort wieder zurück, und es perlte an mir und um mich herum und durch mich hindurch, es erfrischte, trieb, heilte, erhob und überspülte mich und ich überließ mich seinem Tun; seine Wellen machten mich süchtig nach ihrer Berührung und nach ihrer Nähe, ich kam im Meer.
Gereinigt und gesalzen tauchte ich aus dem Wasser auf, schwebte ans Ufer wie ein Phönix aus der Asche – und stand unversehens vor Herrn Gundlach, dem milchigen Vorsitzenden des Kirchenvorstands aus meinem Heimatort, und seiner immer leicht vertrocknet dreinschauenden Ehegattin. Beide in identische Windjacken gehüllt und mit je einem Regenschirm bewaffnet.
Es folgte ein äußerst gezwungenes Gespräch, in welcher Ortschaft man denn wohnen würde – gefolgt von gepressten Ausrufen in »Oh« und »Ah« für die Natur und die Aussicht (womit in beiden Fällen bestimmt nicht ich gemeint war) und – endlich – einem erlösenden »Na, dann noch gute Erholung für Sie.«
Ich ging zurück in die Dünen, zog mir Turnschuhe und Shorts an und lief am Meer entlang bis die Sonne unterging. Ich lief gegen den Wind und spürte keine Erschöpfung – bis ich mich umdrehte. Da fühlte ich mich getragen. Und ausgelaugt.
Funktioniert habe ich an dem Tag, an dem ich deinen Brief bekam. Ich hatte ihn in die Innentasche meines Jacketts gesteckt, ich wollte dich an meinem Herzen wissen, ich trug dich wie ein Schild mit mir herum.
Regen prasselte auf die Blätter der alten Bäume im Pfarrgarten und nasse Klammheit hatte sich auf die steilen Straßen rund um das Pfarrhaus gelegt. Die Erde schien sich mit feuchtem Dampf verhüllen zu wollen, nur noch transpirieren zu können.
Ich unterrichtete an der Grundschule, verbrannte mir den Mund an heißem Kaffee und musste im Klassenzimmer die grellen Neonröhren anschalten. Eine Stunde, zwei Stunden, an die Themen kann ich mich nicht mehr erinnern, die Kinder höchstwahrscheinlich auch nicht. In der dritten Stunde konnte ich mich nicht mehr konzentrieren und ließ einen Test schreiben. Früher habe ich meine Lehrer für so etwas gehasst.
Und immer dein Brief bei mir, an mir. Es machte mich wuschig, ihn zu spüren, sogar euphorisch - irgendwann hatte ich das irrige Gefühl, zu unserer Segnung zu fahren, zu deiner und meiner, ich wusste, ich verlor den Boden unter den Füßen, musste mich zur Vernunft rufen: Ich – bin - nur - als - Gast – eingeladen! Und das hatte etwas Sadistisches, was ich aber nicht wahrhaben wollte, was ich nicht ertragen konnte, denn ich würde mir das anschauen, was ich selbst versäumt hatte. Ich wusste genau, ich hatte etwas anderes, wunderbares gewählt und bekommen – und dennoch ...
Wenn man vor einer Weggabelung steht und die Kluft betrachtet, die sich vor einem aufgetan hat, zwei miteinander unvereinbare Lebensentwürfe, die man jedoch, aus tiefstem Herzen sehnend, ineinander verschmolzen zu sehen wünscht und sich dann entscheidet, entscheiden muss, entweder gegen das Herz oder gegen den Herrn ... schlussendlich aber gegen beides, weil keine andere Möglichkeiten gelassen werden ...
Immer wieder wird behauptet, wir Priester entschieden uns doch freiwillig für den Zölibat, für diese Art zu leben; schließlich würde niemand gezwungen, Priester zu werden.
Doch wenn man von Gott zum Priesteramt berufen ist, diese Sehnsucht, dieses nie verstummende Rufen im Herzen verspürt und wenn man aus dieser Berufung heraus leben will, zu leben hat – dann kann man nicht anders.
Man muss Priester werden.
Und hofft, glaubt, meint, mit dieser von der Kirche auferlegten Aufgabe umgehen und fertig werden zu können. Sie lieben zu lernen, wie es gelehrt und zuweilen auch vorgelebt wird.
Man verstehe mich nicht falsch – ich glaube, der Zölibat kann für viele Menschen eine Erfüllung sein, er ist es de facto auch. Aber eben nicht für alle, und somit auch nicht für alle Priester.
Und dabei hatte der Tag wie jeder andere begonnen, nichts darauf hingedeutet, dass seine Wellen besonders hoch an meine Küsten schlagen würden.
Als ich von Hiddensee zurückkehrte, geriet ich bei Hamburg in einen kilometerlangen Stau. Ein Tiertransporter war umgefallen und tausende von halb-, schein- oder gänzlich toten Hühnern lagen oder dämmerten auf der Autobahn vor sich hin. Flattern konnten die meisten von ihnen längst nicht mehr.
Ich würde es nicht rechtzeitig zur Vesper und zum Aperitif schaffen und rief im Seminar an. Jeremias versprach, auf mich zu warten und mir die Tür zu öffnen.
Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich ankam. Jeremias schloss die Tür auf und umarmte mich herzlich. Er nahm mir, jeglichen Widerspruch ignorierend, einen Großteil des Gepäcks ab und öffnete mit breitem Grinsen die Tür zu meinem Zimmer. Er hatte einen kleinen, dreigängigen Imbiss auf dem Schreibtisch aufgebaut. Zum Glück gab es kein Huhn.
Wir entkorkten eine Flasche Grauburgunder und redeten über unsere Erlebnisse während der Ferien.
Mit zwölf neuen Anwärtern sei das Seminar nun ziemlich voll, aber Kotulla hätte in seiner Ansprache wieder düstere Zukunftsperspektiven an die barocken Wände geworfen.
‚Bist du wie Petrus?‘, hätte er wieder und wieder donnernd und mit ausgestrecktem Zeigefinger gefragt, auf den Verrat des Apostels anspielend, auf nahezu jeden Menschen im Raum deutend.
»Er gehört halt zu einer anderen Generation«, meinte ich.
»Sie sind damals wahrhaftig durch eine harte Schule gegangen«, stimmte Jeremias zu, »aber er sollte doch auch etwas Freude darüber zeigen, dass zwölf Neue hier anfangen!«
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