Johannes Knecht fordert die Wissenschaft auf, dieser Ambivalenz der künstlerischen Objekte in ihrer Fragestellung gerecht zu werden. Er sieht die Notwendigkeit, „phänomenologische Subjektivität und begründbaren Zweifel […] als immanenten Modus geisteswissenschaftlicher Denk- und Erkenntniswege selbstbewusst [auszuweisen].“9 Nimmt man Knechts Kritik an einer nach eindeutigen Fakten strebenden Geisteswissenschaft ernst, in welchem Verhältnis stehen jedoch dann ihre Forschung und Fragestellungen zu dem ‚Kampf gegen das Postfaktum‘, für den Wissenschaftler am 22. April 2017 vielerorts zum March for Science auf die Straße gingen? Entzieht sie sich damit der wissenschaftlichen Verantwortung, Fakten zu identifizieren und die Wahrheit zu verteidigen? Ist die Forderung zur programmatischen Berücksichtigung der Subjektivität ein Zeugnis des Elfenbeinturmcharakters der Geisteswissenschaften, die sich und ihre Gegenstände in einem Außen gesellschaftlicher Verantwortlichkeit und Funktionalisierung finden und verteidigen? Wie steht es mit dem Postulat des kritischen Denkens in den Geisteswissenschaften, die ihren eigenen Erkenntnissen absolute Objektivität und belastbare Faktizität absprechen?
Kritisches Potenzial dieses subjektiven geisteswissenschaftlichen Modus liegt paradoxerweise genau in dessen Objektivität. Denn die Kunst und ihre Beforschung weisen auf etwas hin, das zwar ihr charakteristischer Wesenszug, jedoch nicht nur ihr eigentümlich ist. Die poetische Funktion, mit der nach Jakobson das künstlerische Objekt zunächst auf sich selbst und seine Struktur verweist, fordert den Wissenschaftler dazu auf, dem Kunstwerk zu begegnen, ohne sogleich dessen Funktionalisierung innerhalb eines konkreten gesellschaftlichen Zusammenhangs zu intendieren.10 Ein Objekt will so stets aufs Neue mit den Fragen nach sich selbst betrachtet werden. In dieser Weise bieten sich Kunst und geisteswissenschaftliche Befragung als Denkmodell an. Denn sie betonen den genuin uneindeutigen Charakter des Objekts und damit jeder Perspektive seiner Analyse. In der ständigen Berücksichtigung der Uneindeutigkeit macht der geisteswissenschaftliche Diskurs sichtbar, wie jede Perspektive bereits einer subjektiven Entscheidung des Betrachters entspringt.11 Erst indem sich die Untersuchung von dem Anspruch der absolut wahren Deutung verabschiedet, kann sie für eine Objektivität frei werden, die in dem grundsätzlich polyvalenten Potenzial aller Gegenstände besteht.12
Dies kann nun nicht nur als eine Erkenntnis der Geisteswissenschaften, sondern als allgemeine Bedingung der Forschung gelten. So werden die Gegenstände der Naturwissenschaften, Soziologie etc. – im Gegensatz zum künstlerisch-poetischen Außen – zwar oft als gesellschaftlich funktionalisiertes Innen verstanden. Doch auch diese ‚inneren‘ Gegenstände der Forschung können in ihrer poetischen Dimension betrachtet werden, in der diese auf sich selbst verweisen. Sie wird nur weniger berücksichtigt. Denn anders als beim Kunstobjekt steht in der Untersuchung des naturwissenschaftlichen, soziologischen, juristischen u.ä. Objekts oftmals dessen referenzielle oder appellative Funktion im Vordergrund: Ein Gegenstand wird in seinem Bezug zur Welt betrachtet und auf seine gesellschaftliche Bedeutung untersucht. Die Fragerichtung scheint in diesem Fall eindeutig. Ist beispielsweise in der Medizin die Strukturanalyse einer Krankheit ein Mittel zum Zweck, um Menschen von ihr zu heilen, gilt die Krankheit als negativer Befund und die Beforschung in Funktion ihrer Beseitigung als gesellschaftlich erstrebenswert. Sie als Struktur zu betrachten, die Krankheit quasi zum Selbstzweck zu ernennen, erscheint nutzlos. Dennoch birgt der Fokus auf die Struktur, wie ihn die Geisteswissenschaften gegenüber dem Kunstwerk einnehmen, weiteres Erkenntnispotenzial. So kann dies Perspektiven aufwerfen, die die eindeutige Definition und Bewertung der gegebenen Struktur als gesund oder krank infrage stellen und zunächst dazu dienen, deren Ursachen und Erwachsen zu verstehen. Sekundär eröffnet dies wiederum eventuelle Alternativen für pragmatische Maßnahmen – ohne dass diese besser oder schlechter sein müssen.13 Selbiges gilt bei der juristischen Definition eines physisch-gewalttätigen Kommunikationsaktes als Terror und den folgenden Reaktionen und Bewertungen in Politik und Medien – ein aktuelles Beispiel mag hier das andauernde Ringen um die Deutungshoheit über die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Aktivisten im Zuge des G20-Gipfels 2017 in Hamburg bieten. Für die Wissenschaften bedeutet eine solche ‚poetische‘ Befragung der Untersuchungsgegenstände einer jeweiligen Disziplin letztlich zugleich eine kritische Hinterfragung der Disziplinen an sich und ihrer gesellschaftlichen Legitimation. Insofern beansprucht die von Kevin Drews oben ausgeführte Beobachtung zur geisteswissenschaftlichen Fragepraxis, der die kritische Selbstbefragung der eigenen Disziplin immer eingeschrieben ist, als Prämisse für jede Wissenschaftsdisziplin ihre Gültigkeit.
Geisteswissenschaftliche Befragung birgt kritisches und engagiertes Potenzial, insofern sie im Akt ihres Fragestellens selbst stets auf das polyvalente Potenzial aller Objekte und Fakten sowie deren Besprechung hinweist und dies zur Bedingung ihres Erkenntnisstrebens erklärt. Geisteswissenschaftliche Kritik kann in diesem Sinne zeigen, wie gerade die Loslösung von einer vorausgesetzten Funktion und die Absage an eine eindeutige Statusdefinition – sei es eines Objekts oder seiner Forschungsfrage – eine Annäherung an das Faktum und das Verständnis seiner Konsequenzen ermöglichen. Zugleich gilt für sie dasselbe, was Adorno über die engagierte Kunst anmerkt: „Sobald jedoch die engagierten [Geisteswissenschaften] Entscheidungen veranstalten und zu ihrem Maß erheben, geraten diese auswechselbar.“14
Befragung des Kanons als Form kritischen Denkens (Friederike Schütt)
Beschäftigt man sich mit den Modi des Fragens in den Geisteswissenschaften, so rückt im wissenschaftlichen Arbeiten stets der Anspruch in den Fokus, möglichst offen gebliebene Fragestellungen zu bearbeiten, Fragelücken zu erkennen und zu schließen. Doch wie findet man eigentlich Fragen, die überhaupt noch nicht gestellt wurden, oder Objekte, die noch nicht untersucht wurden, wenn der Blick der Studierenden in akademischen Lehrveranstaltungen wie auch außerwissenschaftlichen Ereignissen, etwa Lesungen, Ausstellungen oder Theateraufführungen, zunächst vorwiegend auf die Auseinandersetzung mit kanonisierten Objekten und deren Interpretationen gelenkt wird? Im Folgenden soll beleuchtet werden, wie die Befragung von Kanonbildungsprozessen als produktive Form kritischen Denkens in der geisteswissenschaftlichen Praxis zum Auffinden bisher nicht gestellter Fragen verhelfen und durch eine wissenschaftsgeschichtliche Reflexion der jeweiligen Disziplin befruchtet werden kann.
Welche Werke, Autoren und Künstler sowie Fragestellungen und Narrative den Kanon einer Geisteswissenschaft prägen, zeigt sich immer wieder im Rahmen groß angelegter Jubiläumsfeierlichkeiten. Die kulturellen Ereignisse bieten zum einen öffentlichkeitswirksames und finanzielles Potenzial für die Forschung, fördern innovative Projekte und bringen neue Forschungsergebnisse hervor. Ob durch museale Sammlungs- und Ausstellungspräsentationen oder etwa literaturvermittelnde Institutionen wie Buchhandel, Bibliotheken oder Literaturkritik, gerade die Schnittstelle zur Öffentlichkeit wird zum anderen aber ebenso häufig zum Anlass für die Wiederholung und Bestätigung bekannter, vermeintlich final erforschter Inhalte.1 Prozesse der Kanonbildung werden fortgeführt, stabilisiert, aber auch problematisiert, wie nachfolgend am Beispiel der jubiläumsbedingten Rezeptionsweise zweier Künstler des frühen 16. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt werden soll.
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