Das heißt also die Installation von Dietrich Förster in der Universitätsbibliothek Erfurt ist nicht darum so interessant, weil sie etwa falsch herum gehängt wurde. Das würde ja bloß implizieren, dass bei einer umgedrehten Anordnung die Ordnung der Dinge wiederhergestellt würde. Es wäre nichts anderes als kritisches Fragen erneut in eine Zweck-Mittel-Relation einzuschreiben. Vielmehr ergibt sich gerade an der gegenläufigen Bewegung zwischen Raum und Kunstwerk, in der Ununterscheidbarkeit von Anfang und Ende ein Reflexionsmedium für kritisches Fragen. Wenn geisteswissenschaftliches Fragen immer schon konstitutiv von der Frage nach der Geisteswissenschaft angeregt wurde, gibt es eben keinen Anfang und auch kein Ende, sondern nur ein Immer-Schon-Inmitten-Sein als einziger Ausgangspunkt und Möglichkeitsbedingung unvorhergesehener, anderer Bewegungen im Modus des Fragens selbst. Die Reflexion über den eigenen Ort in diesem Gefüge ist dann der Anfang einer kritischen Arbeit, die nicht einen absoluten Anfang zeitigt, sondern einen Anfang, der immer schon inmitten von problematischen Bezügen verortet ist und die Frage erst zu stellen hat, die diesem Problem gerecht wird. Michel Foucault hat exemplarisch diese Frage des eigenen Ortes in jenem Augenblick gestellt, der für ihn selbst ein Anfang war: der Antrittsvorlesung als institutionellem Initiationsritual. In seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France reflektiert Michel Foucault das Problem des „Anfangens“12. Er fragt sich dort, was es überhaupt bedeutet, der „Urheber des Diskurses zu sein“13, als Erster zu sprechen. Die Voraussetzung der Urheberschaft ist für ihn das souveräne Subjekt, das über seinen Gegenstand erhaben verfügt und auf dieser Grundlage einen sinnhaften Monolog als stringente Erzählung von einem Punkt x=a zu einem Zielpunkt x=b zu halten vermag. Die Abkehr von diesem souveränen Standpunkt ist hier nicht Inszenierung oder spielerische Koketterie mit den Aporien des modernen Autorsubjekts, um hinterrücks und heimlich entschiedener denn je wieder zu diesem Standpunkt zurückzukehren, sondern die radikale Konsequenz aus dem eigenen Denken. Die Reflexion über den eigenen Ort des Sprechens ist die Bedingungsmöglichkeit für die Erkenntnis der eigenen Involviertheit als „Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität“14 dessen, was in der eigenen Praxis als Frage und Problem latent ist. Nietzsches Verschiebung auf die Wer-Frage bedeutet hier dann jedoch nicht Parteilichkeit, dogmatische Stellungnahme oder politische Positionierung, sondern die kritische Reflexion, über den eigenen Ort inmitten disziplinärer Anordnungen, institutioneller Rahmenbedingungen und dem nicht-universitären Außen, die sich im Fragen als Suchbewegung bahnen kann. Diese möglichen Bahnungen anderer Fragerichtungen versuchsweise auf ihre Möglichkeiten hin auszuprobieren, kann neue kritische Fragen hervorrufen, eingedenk jedoch des Versucherischen, das dabei immer auch eine gefährliche Verführung bleibt.
Fragenstellen als zeitkritisches geisteswissenschaftliches Verfahren (Sandra Ludwig)
Hinterfragt man das Prinzip des Fragenstellens als Kerntätigkeit geisteswissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, so wird deutlich, dass es nicht nur darauf ankommt, welche Fragen gestellt werden, von welcher (Dis-)Position aus und mit welcher Intention Fragen gestellt werden (→ K. Drews), sondern auch, wann diese Fragen gestellt werden. Dieser bedeutsame Zusammenhang zwischen Frageform und Fragezeitpunkt lässt sich sinnbildlich bereits an der Denkfigur vom rechten Augenblick und ihrer etymologischen Artverwandtschaft mit den Begriffen des Kritischen und der Krise ablesen. Dies soll im Folgenden in gebotener Kürze erläutert werden.
In der griechischen Mythologie taucht die Vorstellung vom rechten Zeitpunkt bzw. vom entscheidenden Augenblick personifiziert in Gestalt der Gottheit Kairos auf. Verschiedene antike Darstellungen zeigen diesen Gott der günstigen Gelegenheit, die gleichsam von äußerst flüchtiger Natur ist, als jungen mit Flügeln versehenen Mann, der jederzeit vorbeieilen kann (s. Abb. 1).
Abb. 1: Kairos; römische Reliefdarstellung, 1. Jh. n. Chr., pentelischer Marmor, © MiC-Musei Reali, Museo di Antichità, Turin.1
Ein aussagekräftiges besonderes Merkmal des Kairos ist dabei sein Haupthaar. Fällt ihm auf der Vorderseite eine lockige Strähne über die Stirn, so ist sein Hinterkopf im Gegensatz dazu völlig kahl. Sinnbildlich wird dadurch die charakteristische Eigenschaft des rechten Zeitpunkts illustriert: Erkennt man Kairos rechtzeitig, kann man die Gelegenheit sprichwörtlich „beim Schopfe packen“, verpasst man jedoch den Moment, hat man im wahrsten Sinne des Wortes das Nachsehen, denn von hinten – oder auch ‚hinterrücks‘ – bekommt man ihn nicht mehr zu fassen und kann der vorübergezogenen Chance nur noch hinterherblicken.2 Es geht also darum, im entscheidenden Augenblick tätig zu werden. Demnach ist die Zeit in dieser Denkfigur als kritischer Faktor zu betrachten, der Erfolg von Misserfolg, Glück von Unglück und Fortschritt von Versäumnis trennt.
So verstanden offenbart sich auch die oben bereits angesprochene Bedeutungsnähe von Kairos mit der Krise und dem Kritischen ; haben die Begriffe doch eine ursprüngliche etymologische Verwandtschaft, wie Christoph Lange feststellt:
Kairos ist über keiro (abschneiden) mit krinein verwandt. Das heißt scheiden, trennen, unterscheiden, aber auch entscheiden, ein Urteil fällen. Das Substantiv dazu heißt krisis . Die krisis ist die Trennung, der Einschnitt, bedeutet aber auch Entscheidung eines Wettkampfes, eines Streites, auch eines Rechtsstreites, und dann heißt krisis Gericht. Kairos ist also in seiner temporalen Bedeutung eine Krise der Zeit. Im kairos werden die Zeiten unterschieden.3
Kairos, das Kritische und die Krise teilen sich also in ihrer Bedeutung allesamt das Moment des Entscheidenden bzw. bezeichnen eine mit einem spezifischen Veränderungspotenzial versehene Situation oder Handlung. Bricht man diese Feststellung nun zurück auf den Ausgangspunkt der Überlegung, nämlich die Problematik der Rechtzeitigkeit oder der rechten Zeitlichkeit geisteswissenschaftlichen Fragenstellens, so wird deutlich, dass es sich dabei gleich in doppeltem Sinne um ein zeitkritisches Verfahren handelt.
Zum einen kommt es darauf an, den rechten Zeitpunkt für eine Frage zu erwischen. Damit eine Frage ihre Wirkmacht entfalten kann und von breiterem wissenschaftlichen Interesse ist, muss sie im richtigen Moment gestellt werden. Zu früh gestellte Fragen sind ihrer Zeit vermeintlich voraus. Das heißt, sie berühren Themenfelder oder eröffnen gedankliche Horizonte, für die die Zeit noch nicht reif, die wissenschaftliche Community noch nicht bereit ist. Zu spät gestellte Fragen haben oft ihren Neuigkeitswert verloren und taugen demnach nicht mehr dazu, Wissen zu schaffen, sondern nur noch bereits gegebene Antworten zu replizieren. Wiederholende Fragen erlangen zumeist nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit, um in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Gehör zu finden. Die angesprochenen Themen sind nicht mehr zeitgemäß; Kairos ist schon um die Ecke entflohen.
Wenn das Prinzip des Hinterfragens also kritisches Denken in den Geisteswissenschaften auszeichnet, dann gehört die Kunstfertigkeit, dies zur rechten Zeit zu tun, zur guten geisteswissenschaftlichen Praxis dazu. Gerade dies kann zum Problem werden und tritt oft dann als krisenhaftes Moment hervor, wenn inner- oder interdisziplinär unterschiedliche Auffassungen über den rechten Zeitpunkt für verschiedenartige Fragestellungen existieren. Während manche epistemischen Lager eher zukunftsorientiert ausgerichtet sind, operieren andere Forschergruppen oder ganze Disziplinen mehr traditionsbewusst (→ F. Schütt). Die Kunst, in einer derartig janusköpfigen Wissenschaftslandschaft den Kairos des Fragens nicht entwischen zu lassen, bedeutet also, einen Balanceakt zwischen einer progressiven und einer konservativen Geisteshaltung zu meistern.
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