Kritisches Denken

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Kritisches Denken ist ein zentrales Werkzeug geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Eigenes Urteilsvermögen zu stärken und kritisches Denken zu wagen, gehört zu den wichtigsten übergeordneten Zielen eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Diese Metakompetenz verleiht speziellen Kompetenzen erst ihren Sinn. Die Beiträge aus verschiedenen Disziplinen gehen der Bedeutung dieser unverzichtbaren Fähigkeit für Geisteswissenschaftler:innen nach und zeigen auf, welche Ausprägungen kritisches Denken in den Geisteswissenschaften disziplinspezisch annehmen kann.

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Ulrike Job Kritisches Denken Verantwortung der Geisteswissenschaften bad img - фото 1

Ulrike Job

Kritisches Denken

Verantwortung der Geisteswissenschaften

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Umschlagabbildung: Graffiti, North Fitzroy, Melbourne, Australia 2006. Foto: Russell West-Pavlov

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.deeMail: info@narr.de

ISSN 2568-4019

ISBN 978-3-8233-8197-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0321-3 (ePub)

Einleitung

Ulrike Job

Unsere globalisierte, mobile und beschleunigte Welt verändert sich durch Bevölkerungswachstum, schwindenden sozialen Zusammenhalt, durch Umweltzerstörung, Klimawandel und Pandemien in rasantem Tempo. Diese ‚grand challenges‘, aber auch Unwägbarkeiten in individuellen Lebensentwürfen, verursachen Unsicherheiten. Sie drücken sich u.a. in Fake News, alternativen Fakten, politischen Wutreden oder Verschwörungserzählungen aus. Um solche Desinformationen kritisch prüfen zu können, Tatsachen von Fälschungen, Irrtümern und Meinungen unterscheiden und die Konditionen unseres Zusammenlebens aushandeln zu können, muss die Welt gut verstanden werden. Kreativität und neue Denkansätze sind dafür nötig. Aber vor allem das Vermögen zu kritischem Denken ist letztendlich die Grundlage für die eigene Beurteilungsmöglichkeit und eine mündige, gestaltende Bürgerschaft in unsicheren Zeiten.

Kritisches Denken ist „jene Art des Denkens (gültig für alle Gegenstände, Inhalte oder Probleme), bei der eine Person die Qualität ihres Denkens steigert, indem sie es sich zur Pflicht macht, die inhärenten Strukturen des Denkens sachkundig zu befolgen und sie an intellektuellen Normen zu messen.“1 Diese Definition macht deutlich, dass wir im kritischen Denken Selbst-Verantwortung für die Qualität unseres Denkens übernehmen und Kriterien geleitet unsere Denkgewohnheiten überprüfen,2 dabei Angemessenheit, Reichweiten und Grenzen reflektieren3.

Kritisches Denken gilt als eine zentrale menschliche Fähigkeit, eigene und fremde Annahmen herauszuarbeiten, sie im Hinblick auf Richtigkeit und Gültigkeit zu hinterfragen, anschließend Alternativen zu suchen, um den Denkrahmen größer und vollständiger zu fassen und auf dieser „vor-gedachten“ Grundlage informierter handeln und entscheiden zu können.4

Umgangssprachlich verwenden wir ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ oft im Sinne einer häufig intuitiven und ausschließlich negativen Beurteilung, einer Abwertung, Beanstandung oder Bemängelung. Wenn man aber nach der Wortherkunft schaut, so ist der ursprünglich griechische Begriff aus dem Verb κρίνειν krínein abgeleitet, das ‚(unter-)scheiden, entscheiden, beurteilen‘ bedeutet. Und so ist der korrekte Sprachgebrauch von ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ eine Beurteilung nicht nur nach Un wert, sondern vor allem nach dem Wert. Kritik und kritisieren ist dann nicht das intuitive Ergebnis einer ablehnenden Haltung, sondern viel mehr das Vermögen, Eigenschaften, Argumente, behauptete Tatsachen, Fakten, aber auch Vermutungen, Hypothesen aus verschiedensten Blickwinkeln, nach Wert und Unwert, nach richtig und falsch, nach Glauben und Wissen informiert zu prüfen und den Geltungsbereich der Beurteilung zu erörtern.

Grundlage für kritisches Denken ist das selbstständige und umfassende Nachforschen und Überprüfen von Informationen unabhängig von der eigenen favorisierten Meinung, d.h. ohne Suche nur von Informationen, die der eigenen Meinung entsprechen, bzw. Vernachlässigung solcher, die der eigenen Position entgegengesetzt sind. Eine in diesem Sinne kritische Haltung − verbunden mit intensiver und vollständiger Prüfung und Beurteilung aus verschiedensten Blickwinkeln − nimmt Gegebenes nicht hin, sondern bewahrt hoffentlich vor Täuschung und Irrtum. Sie eröffnet aber auch Neues in der eigenen Urteilsbildung. Somit ist Kritik ein produktiver Prozess der Neuzusammensetzung.5

Kritisches Denken ist nicht nur eine Methodenfähigkeit der „bewusste(n), selbstregulative(n) Urteilsbildung, welche Interpretation, Analyse, Bewertung und Schlussfolgerung beinhaltet“6, sondern es ist auch eine Haltung, eine Persönlichkeitseigenschaft: Man muss kritisches Denken für notwendig halten, sensibel und selbstverantwortlich bereit dafür sein. Wichtig sind die Grundeinstellung und Erkenntnis, dass man nie sicher wissen kann, was „wahr“ ist.

Man könnte annehmen, dass es in der menschlichen Natur liegt, kritisch zu denken. Kritisches Denken als Methodenfähigkeit und als persönliche Bereitschaft entwickeln sich jedoch nicht automatisch, sondern müssen in diskursiven Prozessen erlernt und eingeübt werden, sonst bleibt es ungeschult und voller Vorurteile. Damit kommt insbesondere Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eine hohe Verantwortung zu, sich der Herausforderung zu stellen, junge Menschen in der Entwicklung von kritischem Denken zu unterstützen, damit sie selbstbestimmt, verantwortlich und zukunftsorientiert in allen möglichen Bereichen des öffentlichen wie persönlichen Lebens handeln können. Somit muss kritisches Denken auch als anerkanntes Ziel von Hochschullehre in Haltung und als Methode ausgebildet und trainiert werden.

Kritisches Denken ist ein Markenzeichen, eine zentrale Eigenschaft in der Wissenschaft. Es ist Grundlage für eine skeptische, gründliche und Ergebnis offene, wissenschaftliche Arbeitshaltung und gilt als bestakzeptiertes Lernziel in allen Wissenschaftsdisziplinen7. Oft wird es implizit durch vorbildliches Nachahmen vermittelt, eher weniger explizit mit einem Metablick und systemischem Wissen als Methode erläutert8.

Wissenschaft hat eine aufgeklärte Sicht auf Wahrheit: Sie produziert Annäherungswissen und muss häufig mit widersprüchlicher Evidenz umgehen. Guter Standard für den Umgang mit Wahrheit bzw. Annäherungswissen ist aber der Anspruch auf dessen Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Wissenschaftler*innen müssen ihre Quellen offenlegen und so argumentieren, dass ihre Annahmen nachvollziehbar sind. In der Wissenschaft ist Kritik im Sinne einer kritischen Haltung Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens und dient der gründlichen Prüfung des zu untersuchenden Objekts bzw. des Sachverhaltes im Hinblick auf dessen Einwandfreiheit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit, Vorverständnis sowie auf dessen positive wie negative Merkmale. Denn alles, was wir − insbesondere in der Wissenschaft − zu wissen glauben, steht unter Vorbehalt, niemand kennt die endgültige Wahrheit.

Die Geisteswissenschaften ermöglichen mit vielen Einzeldisziplinen, die Welt in ihren kulturellen Ausprägungen (Sprache, Literatur, Kunst, Kultur, Medien, Religionen, Weltanschauungen usf.) besser zu verstehen. Als großer Wissens-, Diskurs- und Reflexionsraum von und über Kultur dienen sie der kulturellen Selbstvergewisserung und bieten eine wissenschaftliche Bedeutungslehre von Kultur, in dem sie das, was Kultur offenbart, untersuchen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren Untersuchungsobjekten ist kritisches Denken das Kerngeschäft der Geisteswissenschaften, das als Haltung und Methode diskursiv ausgehandelt und in betreuter Übung trainiert wird.

Durch Lesen, Schreiben und Diskutieren werden wissenschaftliche Umgangsformen eingeübt, wie in den jeweiligen Einzeldisziplinen das Weltverstehen der Geisteswissenschaften funktioniert. „Mit diesem Ansatz von „doing science“ werden Studierende in vielen kleinen vorantastenden Gedankenschritten zu urteilsfähigem Selbstdenken herangebildet.“9

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