„Seid ihr nicht mehr krank, ihr zwei Kinder?“, fragte Reingard Söllner. „Nein, Mami“, sagte Marie, 14. „Nein, Mami“, sagte Sami, 8.
—Dann fahren wir wieder zurück.
—Dürfen wir jeder einen Wasserschöpfroboter haben, einen orangen und einen türkisfarbenen?
—Nein, Kinder.
—Warum nicht, Mami?
—Weil ihr keinen Wasserschöpfroboter braucht, weder einen orangen noch einen türkisfarbenen. Wir schöpfen das Wasser selber, wenn wir einmal welches in größeren Mengen verschütten.
—Aber dann werden wir vor lauter Enttäuschung gleich wieder hoch zu fiebern beginnen.
—Gut. Dann morgen. Einen orangen für dich, Sami, und einen türkisfarbenen für dich, Marie, und nur, wenn ihr versprecht, nicht gleich wieder hoch zu fiebern.
—Ehrlich, Mami, versprochen?
—Nein, Kinder, gelogen. Und jetzt ab nach Hause, Fieber hin oder her.
Reingard Söllner hatte also zwei Kinder, Marie, 14, und Sami, 8. Außerdem hatte sie, wie gesagt, eine lindgrüne Zimmerlinde, eine Katze, die Hund hieß, 37 Kaffee- und Teetassen, denn sie sammelte Kaffee- und Teetassen, und sie hatte innere Stimmen, mindestens zwei, beide weiblich. Meistens sprachen die inneren Stimmen zu ihr, wenn sie unterwegs war, und da die Lehrerin Reingard Söllner fast ununterbrochen unterwegs war, sprachen die inneren Stimmen fast ununterbrochen zu ihr, ausgenommen in Zeiten, in denen sie entweder zu Hause vor dem Fernsehgerät lag, schlief oder tagsüber in einem denkmalgeschützten Schulhaus in einer der Klassen stand oder saß und mit frisch abgerufener Zuversicht darauf wartete, dass eines der Kinder ein Mal wirklich Interesse für das zeigte, was sie erklärte oder erzählte oder mit Kreide an die Tafel schrieb oder zeichnete oder mit einem Overheadprojektor aus der Zeit der Alten Römer an die Wand projizierte.
—Das Bild ist unscharf, Frau Lehrerin.
—Schärfer geht es nicht.
—Mein Vater sagt, in seinem Büro verwenden alle nur noch Dokumentenkameras. Niemand hat mehr einen Overheadprojektor aus der Römerzeit.
—Wie kommst du auf Römerzeit, Manuel?
—Sie sagen immer, der kommt aus der Römerzeit.
—Stimmt, metaphorisch gesprochen kommt er aus der Römerzeit.
—Was gesprochen?
—Metaphorisch. Das Wort lernt ihr nächstes Jahr in Deutsch.
—Und warum haben wir nicht eine Dokumentenkamera?
—Wahrscheinlich, weil die Alten Römer damals auch noch keine hatten.
Die inneren Stimmen hatten ziemlich oft Stress mit Reingard Söllner. Den größten Stress hatten sie im morgendlichen Fußgänger- und Öffibenutzer-Fließverkehr. Der Bezirk am südöstlichen Rand der großen Stadt war nämlich von dem Bezirk am nordwestlichen Ende der großen Stadt, wo das denkmalgeschützte Schulhaus stand, in dem sie arbeitete, manchmal in drei Stockwerken gleichzeitig, sehr weit entfernt. In Zeit ausgedrückt ungefähr so weit, wie ein Flugzeug von Berlin, Deutschland, nach Krakau, Polen, braucht. In Öffis ausgedrückt: zehn Minuten zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle der Straßenbahnlinie 47 oder elf Minuten zu Fuß zum Bus der Linie 7A, dann im Fall Straßenbahn die U7, im Fall Bus die U8, danach in beiden Fällen eine Straßenbahn der Linien 37 oder 37B oder 37C, je nachdem, welche früher kam, und zuletzt gab es noch eine Anhöhe, Gehzeit zehn Minuten, zu bewältigen. Reingard Söllner pflegte jedes Mal, wenn sie auf schnellstem Weg zu ihrem Arbeitsplatz fuhr, 77 Minuten plus/minus 7 weitere unterwegs zu sein, bis sie, sofern über dem Bezirk nicht dichter Bodennebel lag oder sie ihre Brille vergessen hatte, die denkmalgeschützte Schule aus dem Boden auftauchen sah.
Gerade noch gut gegangen, mahnte dann oft die innere Stimme nicht ohne vorwurfsvollen Unterton, es ist fünfvordreiviertelacht, Mathe in der 2B, danach Geografie in der 4A, nein, in der 3A, dazwischen Gangaufsicht im ersten Stock, du musst alles vorher kopieren, also jetzt gleich kopieren, hoffentlich ist der Kopierer nicht kaputt, jedenfalls hast du jetzt keine Zeit für einen Kaffee, vielleicht später. Schuhe wechseln nicht vergessen. Handys einsammeln nicht vergessen. Die Fernbedienung für den Beamer nicht vergessen, den neuen Code für das Schulverwaltungsprogramm nicht vergessen. Wohin hast du den Zettel mit dem Code noch mal gegeben?, fragte die innere Stimme. – Nirgendwohin, sagte die andere innere Stimme, du hast ihn in dein Notenheft geschrieben. – Nein, du hast dir den Zettel aufgehoben, denk scharf nach! – Herrgott, du hast vergessen, Sami das Sackerl mit den Flötenheften in die Schultasche zu packen! – Hast du nicht vergessen, heute ist Dienstag, Flöte ist Mittwoch. – Hoffentlich hat Marie ihre Jause nicht wieder liegen gelassen.
—Guten Morgen, Frau Lehrerin!
—Guten Morgen, Hosna!
Guten Morgen, Jiahao!
—- - -
—Guten Morgen, Jiahao!
Kannst du nicht zurückgrüßen, wenn du gegrüßt wirst?
—Doch, selbstverständlich kann ich zurückgrüßen, wenn ich gegrüßt werde.
—Warum tust du es dann nicht?
—Ich habe Stress, Frau Lehrerin.
—Ach, und du glaubst, da bist du der Einzige, der Stress hat?
—Nein, Frau Lehrerin, das glaube ich nicht, aber Sie mussten gestern bestimmt nicht den ganzen Abend Englischvokabeln lernen statt Walking Dead zu schauen.
—Nein, Jiahao, das musste ich nicht. Ich bin auf dem Platz des Himmlischen Friedens gesessen und habe Menschen auf den verschiedensten Wegen kommen und gehen sehen und manche habe ich bedauert und manche habe ich beneidet, aber die meisten habe ich bedauert, denn während sie glaubten, gehen zu müssen, saß ich bereits.
—So hätte ich meinen Abend auch gern verbracht.
—Nein, Jiahao, du hättest ihn mit Walking Dead verbracht, das ist nicht dasselbe. Aber es ist ähnlich, das gebe ich zu.
So pflegten die Arbeitstage der Lehrerin Reingard Söllner zu beginnen, oder zumindest so ähnlich, und spätestens jetzt hörten ihre inneren Stimmen auf zu sprechen, denn die nächsten Stunden sprach Reingard Söllner selber, wenn sie nicht gerade einem ihrer Schüler zuhörte oder einer Schülerin oder wenn sie nicht gerade einen von ihnen über ihrem Kopf so lange und so heftig im Kreis schwang, bis er aufhörte zu quietschen und zu gackern und zu brüllen und zu raufen, oder eine, wenn es ein Mädchen war.
In dieser Zeit konnten sich die inneren Stimmen erholen, denn sie waren oft schon frühmorgens nicht mehr gut bei Stimme. Wie gesagt, Berlin–Krakau, nur ohne Bordservice und Flugbegleiter, dafür mit im Schnitt 37 einander im Sekundenrhythmus abwechselnden Sitz- oder Stehnachbarn, 7 Bahnsteigverwechslungen, 7 Betriebsstörungen, 7 Verspätungen und zu all dem 57 Lautsprecherdurchsagen. Die inneren Stimmen taten, was sie konnten, aber manchmal fanden sie trotz aller Mühen kein Gehör. Stimmen von oben und von unten, von links und von rechts.
—Wenn die Streifen rosa sind, dann bist du schwanger.
Das Mädchen links neben ihr mit den Stöpseln in den Ohren starrte Reingard Söllner ausdruckslos an, während sie in ihren Smarttrottel sprach.
—Wenn wir Mannsdorf schlagen, sind wir vor Neusiedl, aber Mannsdorf musst du erst einmal schlagen, die haben jetzt den Kirchmaier gekauft.
Der Mann auf dem Sitzplatz unter ihr sprach geradewegs in den Nacken seiner Vorderfrau. Auf halbem Weg dazwischen befand sich das Mikro, das kaum sichtbar an seinem Kopfhörerkabel hing. Manchmal griff die Frau, in deren Nacken er sprach, ohne sich umzudrehen mit der Hand an ihren Nacken und wischte ein paar der Worte weg, damit die anderen wieder Platz hatten.
—Natürlich ist hellrosa auch rosa.
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