Morgenstern hatte Walter Benjamin Mitte der zwanziger Jahre in Wien durch Theodor Wiesengrund-Adorno kennengelernt. Ihre Wege kreuzten sich Ende der dreißiger Jahre wieder, als beide Emigranten in Paris waren. Dort hatte Morgenstern sich, wie er am 21. Dezember 1972 an Gershom Scholem schreibt, mit Benjamin angefreundet. 92Diese Freundschaft wurde noch vertieft, als sich die beiden nach Morgensterns Flucht aus dem Internierungslager in Marseille wiederbegegneten. Die Freundschaft war freilich nur von kurzer Dauer. Nur zwei Monate nach Morgensterns Ankunft in Marseille Ende Juli 1940 beging Benjamin Selbstmord.
Der zweite Komplex der ›Briefberichte‹ befaßt sich mit Morgensterns Erinnerungen an Robert Musil. Die fünf Briefe aus den Jahren 1973/74 entstanden auf Bitten des deutschen Journalisten und Schriftstellers Karl Corino, der zahlreiche Werke über Robert Musil veröffentlicht hat und sich Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Recherchen für seine Studien zu Robert Musils Vereinigungen an Morgenstern gewandt haben dürfte. 93
Wie eng diese ›Briefberichte‹ mit den Erinnerungsbänden an Alban Berg und Joseph Roth zusammenhängen, zeigt der erste und zugleich längste der fünf Briefe an Karl Corino. 94Morgenstern schildert hier, wie er Robert Musil im Jahr 1922 beim Nachmittagstee im Hause des ungarischen Schriftstellers Béla Balázs persönlich kennengelernt hat. Morgenstern und Musil kannten sich zu diesem Zeitpunkt bereits etwa zweieinhalb Jahre vom Sehen, da beide häufig im Café Herrenhof verkehrten. An jenem Nachmittag bei Bela Balázs begegnete Morgenstern nicht nur Robert Musil zum ersten Mal persönlich, sondern auch dem ungarischen Literaturkritiker Georg Lukács. Zu viert debattierten sie stundenlang über Literatur. Morgenstern schildert diese Debatte nicht nur in besagtem Brief vom November 1973 sondern auch in den Erinnerungen an Alban Berg. Dort erscheint diese Episode in verkürzter und modifizierter Form im Kapitel ›Kaffeeklatsch unter Nachbarn‹. 95
Das letzte Exemplar im Komplex der ›Briefberichte‹ ist einem Brief entnommen, den Morgenstern im April 1975 an den Ernst-Weiß-Forscher Peter Engel geschrieben hat. Engel hatte sich zuvor seinerseits mit einer brieflichen Anfrage an Morgenstern gewandt. Morgenstern gibt hier Auskunft über sein Verhältnis zu Ernst Weiß, den er, wie er schreibt, durch Stefan Zweig in Wien kennengelernt hatte und dem er erst im Pariser Exil wiederbegegnet war. Morgensterns Beziehung zu Ernst Weiß war zunächst noch recht reserviert, da Weiß anfänglich Vorbehalte gegenüber Morgensterns Sympathie für Kafka hegte. Weiß hatte offensichtlich schlechte Erfahrungen im Umgang mit Franz Kafka gemacht und nahm Morgenstern dessen unbedingtes Eintreten für Kafka und dessen Werk übel. Nachdem dieses Mißverhältnis aus dem Weg geräumt war, sahen sich Weiß und Morgenstern bis zu dessen Internierung im Mai 1940 fast täglich im Hôtel de la Poste. Morgensterns Brief wurde 1975 in den ›Weiß-Blättern‹, deren Herausgeber Peter Engel zu jener Zeit war, unter dem Titel Erinnerungen an Ernst Weiß veröffentlicht. Darüber hinaus fand er in den von Peter Engel herausgegebenen Essay-Band über Ernst Weiß Eingang. 96
Diese insgesamt neunzehn Briefe fügen sich nahtlos in den Komplex der Erinnerungsbände ein und sind wie diese stark autobiographischen Charakters. Sie vervollständigen und ergänzen aber nicht nur die Schilderungen der Bände über Alban Berg und Joseph Roth, sondern bestätigen auch die Richtigkeit der vorgenommenen Zuordnung des Romanberichts Flucht in Frankreich zum Komplex der ›autobiographischen Schriften‹. Vor allem aus den ›Briefberichten‹ über die Zeit mit Walter Benjamin in Marseille erfährt der Leser wertvolle Details über Morgensterns Zeit in französischer Internierungshaft sowie Einzelheiten über seine Flucht aus dem Lager von Audièrne, die eine wichtige Ergänzung zum Romanbericht Flucht in Frankreich darstellen. Nach der erfolgreichen Flucht aus dem Lager von Audièrne begegnete er Walter Benjamin in Marseille ›auf der Straße‹, wie er in oben zitiertem Brief an Gershom Scholem schreibt. 97Bis zu dessen Selbstmord im September 1940 traf Morgenstern regelmäßig mit Benjamin zusammen. Neben Gesprächen, die Morgenstern und Benjamin über ihre aktuelle Lage als Flüchtlinge in Marseille führten, erzählte Morgenstern dem Freund häufig Anekdoten über das Leben im Internierungslager. In den Mitlagerinsassen, die Morgenstern Benjamin gegenüber erwähnt, sind eindeutig Figuren aus seinem Romanbericht Flucht in Frankreich zu erkennen. Daneben läßt Morgenstern in die Berichte immer wieder auch Begebenheiten aus der Vorkriegszeit einfließen – aus den Jahren des Pariser Exils wie auch aus seiner Wiener Zeit. Diese Episoden wiederum komplettieren die in den Erinnerungen an Alban Berg und Joseph Roth versammelten Anekdoten und Darstellungen.
Zum Abschluß dieses einleitenden Kapitels, das den Leser mit Morgensterns Leben und Werk bekannt machen sollte, sei der Vollständigkeit halber noch die bereits existierende Forschungsliteratur vorgestellt, wenn diese auch bislang noch nicht sehr umfangreich ist. Alfred Hoelzels im Sammelband Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933 veröffentlichter Artikel über Morgenstern ist in diesem Zusammenhang bereits erwähnt worden. Daneben entstanden Ende der neunziger Jahre an der Universität Wien die ersten wissenschaftlichen Arbeiten über Soma Morgenstern und dessen Werk als Reaktion auf die seit 1994 erscheinende Morgenstern-Werkausgabe. Irmgard Anglmayers Diplomarbeit aus dem Jahr 1997 trägt den Titel Soma Morgenstern im Exil . Sie versteht sich als »erste umfangreiche literatur- und sozialgeschichtliche Darstellung der Exiljahre Soma Morgensterns zwischen 1938 und 1976.« 98In diesem Zusammenhang geht es der Autorin in erster Linie darum, »produktionsästhetisch relevante Faktoren in Morgensterns Schaffen aufzuzeigen und seine Rezeptions- und Wirkungsmöglichkeiten zu analysieren.« 99Eine inhaltliche Werkanalyse tritt hier zugunsten des sozialgeschichtlichen Aspektes in den Hintergrund.
1998 reichte Raphaela Kitzmantel ihre Diplomarbeit an der Universität Wien ein, die sich primär mit Morgensterns Erstlingsroman Der Sohn des verlorenen Sohnes auseinandersetzt. 100Im Jahr 2001 legte sie mit ihrer Dissertation Soma Morgenstern. Leben und Schreiben im Schatten der Geschichte die erste umfassende Biographie über Morgenstern vor. 101Raphaela Kitzmantel geht sehr viel detaillierter, als es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung möglich war, der Frage nach: Wer war Soma Morgenstern? Sie folgt nicht nur den einzelnen Stationen von Morgensterns Lebensweg, sondern geht auch ausführlich auf das historische und kulturelle Umfeld von Morgensterns literarischen Arbeiten ein.
Im Jahr 2000 veröffentlichte der amerikanische Germanist Robert Weigel unter dem Titel Zerfall und Aufbruch seine Untersuchungen zur österreichischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert. In diesem Band ist je ein Kapitel Morgensterns Roman-Trilogie Funken im Abgrund und dem Roman Die Blutsäule gewidmet. 102Robert Weigel, der an der Auburn University in Alabama als Professor für deutsche Sprache und Literatur tätig ist, war es auch, der im März 2001 ein internationales Symposium anläßlich Morgensterns fünfundzwanzigsten Todesjahres organisierte. Eine Auswahl der auf diesem Symposium, das vom 22. bis 24. März 2001 an der Auburn University stattgefunden hat, von internationalen Wissenschaftlern gehaltenen Vorträge wurde in dem Band Soma Morgensterns verlorene Welt – Kritische Beiträge zu seinem Werk veröffentlicht, der im Juni 2002 in der Reihe ›New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft‹ bei Peter Lang erschienen ist. Dies ist die jüngste Publikation, die sich mit Morgensterns Werk kritisch und wissenschaftlich auseinandersetzt – und die bislang einzige dieser Art. Robert Weigel formuliert im Vorwort des Bandes die Hoffnung, die dort versammelten Beiträge »mögen eine erste umfassende, würdigende und gleichsam kritische Zusammenschau des Morgensternschen Œuvres vermitteln« 103.
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