Assauer summte ein Schlaflied und bewegte sich vor und zurück, ganz vorsichtig, ganz leise. Er wollte Kevin nicht wecken, denn das hier, er warf einen flüchtigen Blick auf die Reste des Flugzeuges, in das sie vor Kurzem noch voller Vertrauen in diese Zivilisation eingestiegen waren, das hier war nichts für die Augen eines Kindes. Nein, Kinder sollten schöne Dinge sehen, vielleicht diese Orchideen, aber nicht all das Leid, das sich wie ein Albtraum ringsum ausbreitete. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber irgendwann, während die Maschine über den Boden schlitterte, waren sie mitsamt ihrem Sessel aus dem Airbus geflogen. Er hatte Kevin auf seinem Schoß gehalten und ihn an sich gedrückt, ihn beschützt.
Da hinten, auf der anderen Seite der Wiese, kletterte ein Mann zwischen den Trümmern umher. Ein Arzt? Wohl eher ein Reporter, schien es Assauer, denn der Mann fotografierte ununterbrochen. In den Abend nachrichten würden die Absturzbilder um die Welt gehen, morgen früh groß und in Farbe auf jede Frühstückstisch liegen.
Er strich dem Kind eine Locke aus der Stirn und küsste es auf die Stirn. »Schlafe, mein Prinzchen, schlafe. Psst.« Hin und her, ganz vorsichtig, hin und her.
Die warme Maisonne stand hoch. Sie schien dem alten Professor auf die mageren Schultern und das schlohweiße Haar. Hände und Unterarme schmerzten, aber sonst war er offensichtlich in Ordnung. Kurz nach dem Absturz hatten sich seine Hände warm und feucht angefühlt, aber das war vergangen. Jetzt spannten seine Hände, als ob er eine zweite, zu enge Haut wie einen Handschuh übergestreift hätte. Aber er wagte es nicht, seine Hände zu betrachten, dazu hätte er Kevin loslassen müssen und um nichts in der Welt wollte er dies. Und sie waren ihm egal, diese alten Hände. In einiger Entfernung, an einem Abhang vielleicht, ragte der Airbus, oder besser das, was von ihm übrig geblieben war, steil in die Luft. Aber genau war das aus dieser Entfernung für seine alten Augen nicht auszumachen. Er musste lächeln, denn der nackte, ausgebrannte Rumpf erhob sich aus dem Gras wie ein überdimensioniertes Phallussymbol. Wenn Sybilla das sehen könnte.
Dem Siebzigjährigen war bewusst, dass seine Tochter den Absturz kaum überlebt haben konnte. Kurz nachdem die Tragfläche abgerissen und einen großen Teil der Außenwand genau an der Stelle, an der ihr Sessel stand, mit sich genommen hatte, war sie verschwunden. Und nichts deutete darauf hin, dass Überlebende gefunden wurden. Die vie len Menschen, woher immer sie auch kamen, waren, nachdem sie zwei Stunden zwischen den Trümmern herumgestochert hatten, wieder verschwunden. Nur vier oder fünf irrten noch zwischen den Wrackteilen und Leichen und Gepäckstücken umher, verloren, wie orientierungslose Ameisen über unbekanntem Waldboden. Nur der Fotograf schien so etwas wie ein Ziel zu besitzen.
»Schlaf, Kevin. Schlaf, mein Kleiner. Auch wenn Mama weg ist − ich beschütze dich.« Vor und zurück, ganz leise. »Weißt du noch, wie wir letzten Sommer dein Fahrrad repariert haben?« Assauer drückte den Zehnjährigen an seine Brust. »Du warst so wild und hattest nichts anderes als Downhillbikes und Jumpen und irgendwelche Parcours aus schmalen Brettern im Kopf. Und wenn Mama dir erklärte, dass dein Fahrrad kein Downhillbike und auch kein Mountainbike ist und dass es kein Wunder sei, dass dein Fahrrad fast jeden Tag irgendwelche Blessuren habe, hast du brav zugehört und dabei richtig verständ nisvoll ausgesehen.« Assauer lächelte und eine Träne verfing sich in seinem Bart. »Aber Opa war ja da, nicht wahr? Opa kann das reparieren!, hast du immer gesagt und bist mit deinem quietschenden Drahtesel zu mir gekommen. Oh, wie hat Mama geschimpft, als wir von deinem neuen Fahrrad beide Schutzbleche und den Gepäckträger abmontiert haben! Uncool, war dein Ausdruck, stimmts? Gepäckträger sind uncool und was für Mädchen! Recht hattest du, an meinem Fahrrad besaß ich als Kind auch nie einen Gepäckträger.«
Ein Taubenschwänzchen umkreiste die Pieta aus Großvater und Enkel. Hektisch tanzte das Insekt hin und her, um schließlich einen langen Rüssel in reife Blüten zu stecken und dabei wie ein Kolibri in der Luft stehen zu bleiben.
»Sieh Kevin, ein Taubenschwänzchen!«
Aber Kevin blieb still.
»Pst. Schlaf. Entschuldige. Schlaf nur, ich bin bei dir.«
Assauer beugte sich über das Kind und küsste es. Vom langen Sitzen und vom Gewicht des Enkels, der auf seinen angezogenen Knien lag, schmerzten seine alten Gelenke. Die Beine kribbelten und waren kaum noch zu spüren.
»Die Sonne tut uns gut. Sie ist so warm und so rein als würde es uns gar nicht geben. Wenn du groß bist Kevin, und ich schon lang irgendwo dem Gras von unten beim Wachsen zusehe, kannst du zum Mond fliegen, so wie du es dir immer gewünscht hast. Oder vielleicht zum Mars, wer weiß das schon.«
Der Fotograf kam näher. Assauer wollte nicht, dass ihn jemand so ablichtete und beugte sich noch weiter über den Jungen. »Sei ganz still, sonst entdeckt er uns.« Er wollte nicht zusammen mit seinem Enkelsohn der Anblick sein, an dem sich Hunderttausende morgen früh zwischen Zähneputzen und einem Schluck Kaffee aufgeilten. Oder aus diesem Bild die Erträglichkeit ihres eigenen Seins ableiteten. Sieh doch, die armen Menschen! Gott sei Dank geht’s uns gut. Und schon ertragen sie wieder ihren ungeliebten Job, den vergessenen Partner, dieses einmalige Leben.
Assauer verschmolz beinahe mit dem Kind in seinen Armen. Der Fotograf kam immer näher. Der Professor beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und weinte, weinte hemmungslos und voller Schmerz. »Oh, mein Kevin.« Er küsste das stille Gesicht, das friedlich und mit fest geschlossenen Augen an seiner Brust lag. Assauer kannte die schreckliche Wirklichkeit und wollte sie nicht wahrhaben. Aber der Fotograf würde sie jeden Augenblick entdecken, es war an der Zeit, Abschied zu nehmen.
14:52 Uhr, Wellendingen, Gasthaus Krone
Bubi stieß die Beifahrertür des alten Passats auf, sprang aus dem Wagen und rannte in die Wirtschaft.
»Aber die Leichen müssen bestattet werden!«, forderte Christoph Eisele soeben zum wiederholten Mal. »Oder wollt ihr, dass im Hardt was weiß ich wie viele Leichen in den nächsten Wochen …«
»In den nächsten Wochen?! Bis spätestens morgen sind Rettungskräfte oder Militär oder auch beides hier!« Der Zwischenrufer schüttelte den Kopf. »Nächsten Wochen!«
»Sollen wir warten«, fuhr Eisele unbeirrt fort, »bis die Toten langsam vor sich hin faulen? Könnt ihr euch den Gestank vorstellen? Und was ist mit den Krankheiten? Die Krähen, die an den Leichen picken …« Einer Frau wurde übel. Sie stürzte aus dem Saal und wäre fast mit Bubi zusammengestoßen. »Die Krähen kommen auch zu uns herunter, sind ja nur ein paar Meter.« Er schüttelte den Kopf und sagte bestimmt: »Wir brauchen eine Lösung, egal, ob heute Abend die Lichter wieder angehen oder nicht!«
»Und wo sollen wir sie begraben?«
»Am besten gleich an Ort und Stelle. Wir heben eine Grube aus und Schluss.«
»Na, da wird sich der alte Frey aber freuen.« Friedbert Frey, Großbauer aus dem drei Kilometer entfernten Brunnadern, gehörte der größte Teil der Wiesen und Felder, auf denen der Airbus abgestürzt war.
»Kann er auch!«, tönte es aus dem Saal. »Schließlich sind es seine Felder, die wir aufräumen.«
»Aber was machen wir, wenn er sagt, dass wir dort niemanden beerdigen dürfen?«
»Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn es so weit ist!«, entschied Frieder Faust. »Zuerst mal steht unsere Sicherheit im Vordergrund und unsere Gesundheit.«
»Wir sollten warten«, kam es zaghaft aus einer Ecke. »Wir können doch nicht ohne Genehmigung …«
»Und wenn es dem Frey nicht gefällt, kann er sie ja irgendwann umbetten. Wenn er mag, meinetwegen auch auf unseren Friedhof.«
Читать дальше