Inhaltsverzeichnis
Rattentanz Michael Tietz
Prolog Prolog »Bringt das Schwein endlich raus!« »Er soll hängen!« »Ja! Hängt ihn auf!« Die Rufe vor dem Gasthaus wurden von Minute zu Minute lauter. Schon machten zwei Männer Anstalten, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollten gerade hinunter in den Gewölbekeller steigen und den Verurteilten seiner gerechten Strafe zuführen, als sich die schwere Holztür des Wirtshauses öffnete. Augenblicklich kehrte Stille ein. Wie in der Nacht festgelegt, hatten sich fast alle Einwohner Wellendingens Punkt sechs am Abend hier versammelt, hier auf der kleinen Wiese, zwischen dem einzigen Gasthof des Dorfes und dem Ehrenbach. Nachdem sie ihn verurteilt hatten, wollten sie ihn nun auch hängen sehen. Einige Halbwüchsige standen auf Fahrzeugdächern und warteten auf das, was sie bisher nur aus Filmen kannten. Die Ziegen, denen die Wiese seit Kurzem gehörte, standen in ihrem Verschlag und beäugten das fremde Konstrukt: ein aus alten Balken zusammengezimmerter Galgen, der sich drei Meter hoch über ein mehr als mannshohes Podest erhob. Zwei Männer führten den Gefangenen über die Straße. Die Frauen und Männer des Dorfes gaben eine schmale Gasse frei. »Ich verfluche dich!« Eine alte Frau drängte nach vorn, versperrte den Männern den Weg und spuckte dem Verurteilten ins Gesicht. Aber der nahm den Speichel, der ihm über die Wange lief und dann vom Kinn auf seine zerfetzten Hosen tropfte, nicht mehr wahr. Es gabm Wichtigeres. Er suchte etwas, was nur er verstehen konnte. Sie stießen ihn weiter. Am Fuß der Konstruktion wartete der Pfarrer. Er hielt dem Gefangenen eine in Leder gebundene Bibel entgegen. »Bereust du deine Sünden?« Der Gefangene sah dem Pfarrer einen Moment ins Gesicht, dann stieß er ihn zur Seite und ihm die Bibel aus der Hand. Er hatte es eilig, so eilig. Er stolperte die schmale Leiter hinauf und an den Rand des Podestes. Ohne Widerstand ließ er sich eine grobe Schlinge um den Hals legen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, ein Hahn krähte. Das Letzte, was er sah, war eine Amsel, die unter lautem Gezeter vom Dach des Gasthauses aufflog. Dann stülpte der Henker ihm einen Sack über den Kopf.
Erstes Buch Erstes Buch – IST – Das Wort »Ist« steht für: − die konjugierte Form des Hilfsverbs »sein« in der dritten Person Singular − den Ist-Wert im Vergleich zum Sollwert − den Ist-Bestand oder das Haben im Vergleich zum Soll (Kaufmännisches Rechnungswesen) − den Ist-Zustand als Ausgangspunkt eines Projektes (Quelle: Wikipedia)
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
Zweites Buch
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
Drittes Buch
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
Epilog
Nachwort
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, oder Video, auch einzelner Text-und Bildteile.
Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.
Copyright © 2009 by Bookspot Verlag GmbH
Satz/Layout: Peter Hänssler
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock
Lektorat: Eva Weigl
eBook: Jara Dressler
ISBN 978-3-937357-44-7
www.bookspot.de
Michael Tietz
Roman
BOOKSPOT VERLAG
Für
Tamara
und
Joscha
Denn der Tag des Herrn der Heere kommt,
über alles Stolze und Erhabene, über alles Hohe – es wird erniedrigt.
An jenem Tag nimmt jeder seine silbernen und goldenen Götzen,
die er gemacht hat, um sie anzubeten,
und wirft sie den Fledermäusen und Ratten hin.
Jesaja 2, 12 und 20
»Bringt das Schwein endlich raus!«
»Er soll hängen!«
»Ja! Hängt ihn auf!«
Die Rufe vor dem Gasthaus wurden von Minute zu Minute lauter. Schon machten zwei Männer Anstalten, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollten gerade hinunter in den Gewölbekeller steigen und den Verurteilten seiner gerechten Strafe zuführen, als sich die schwere Holztür des Wirtshauses öffnete. Augenblicklich kehrte Stille ein.
Wie in der Nacht festgelegt, hatten sich fast alle Einwohner Wellendingens Punkt sechs am Abend hier versammelt, hier auf der kleinen Wiese, zwischen dem einzigen Gasthof des Dorfes und dem Ehrenbach. Nachdem sie ihn verurteilt hatten, wollten sie ihn nun auch hängen sehen. Einige Halbwüchsige standen auf Fahrzeugdächern und warteten auf das, was sie bisher nur aus Filmen kannten. Die Ziegen, denen die Wiese seit Kurzem gehörte, standen in ihrem Verschlag und beäugten das fremde Konstrukt: ein aus alten Balken zusammengezimmerter Galgen, der sich drei Meter hoch über ein mehr als mannshohes Podest erhob.
Zwei Männer führten den Gefangenen über die Straße. Die Frauen und Männer des Dorfes gaben eine schmale Gasse frei.
»Ich verfluche dich!« Eine alte Frau drängte nach vorn, versperrte den Männern den Weg und spuckte dem Verurteilten ins Gesicht. Aber der nahm den Speichel, der ihm über die Wange lief und dann vom Kinn auf seine zerfetzten Hosen tropfte, nicht mehr wahr. Es gabm Wichtigeres. Er suchte etwas, was nur er verstehen konnte.
Sie stießen ihn weiter. Am Fuß der Konstruktion wartete der Pfarrer. Er hielt dem Gefangenen eine in Leder gebundene Bibel entgegen.
»Bereust du deine Sünden?«
Der Gefangene sah dem Pfarrer einen Moment ins Gesicht, dann stieß er ihn zur Seite und ihm die Bibel aus der Hand. Er hatte es eilig, so eilig. Er stolperte die schmale Leiter hinauf und an den Rand des Podestes. Ohne Widerstand ließ er sich eine grobe Schlinge um den Hals legen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, ein Hahn krähte. Das Letzte, was er sah, war eine Amsel, die unter lautem Gezeter vom Dach des Gasthauses aufflog.
Dann stülpte der Henker ihm einen Sack über den Kopf.
– IST –
Das Wort »Ist« steht für:
− die konjugierte Form des Hilfsverbs »sein« in der dritten Person Singular
− den Ist-Wert im Vergleich zum Sollwert
− den Ist-Bestand oder das Haben im Vergleich zum Soll (Kaufmännisches Rechnungswesen)
− den Ist-Zustand als Ausgangspunkt eines Projektes
(Quelle: Wikipedia)
22. Mai, 01:53 Uhr, Wellendingen
Nur in Eva und Hans Segers Küche brannte noch Licht − das einzige in ganz Wellendingen. Der kleine Ort im Südschwarzwald schlief. Dass es die letzte Nacht der alten Zeitrechnung war, wusste keiner.
Eva Seger saß am Küchentisch, vor sich Brot, Butter, Wurst und Käse. Der riesige Holztisch war das Zentrum des Hauses. Auf der massiven Holzplatte sortierte sich der Tag der kleinen Familie. Hier wurde gegessen und gespielt. Hier erledigte Lea ihre Hausaufgaben, rollte Eva Teig aus, las Hans seine Zeitung. Hier schmiedeten sie Pläne.
Читать дальше