Sie zerrten mich aus dem Verlies und schlossen Argela ein. Sie stand aufrecht am Gitter und sagte schwer: »Mein Bruder konnte sich kaum bewegen, er war verwundet, du hast einen Wehrlosen getötet!«
Ich hörte es kaum mehr, und doch traf es mich wie ein Hieb … Das war das Geheimnis zu meinem ruhmvollen Sieg! Ich hätte mir selbst ins Gesicht speien können. Was war mein Stolz gegen den dieses Mannes, der lieber mit der Waffe in der Hand starb, als Schonung wegen Krankheit in Anspruch zu nehmen. Ja, jetzt fielen mir seine matten Bewegungen ein; der Körper war unbewegt gestanden, nur der Unterarm und die Hand hatten den Degen in Paradestellung gebracht. Seine Augen blickten mich wieder an, Augen, die dem Tod ins Gesicht sahen und keine Furcht kannten. Nicht ich hatte diesen Kampf gewonnen, er hatte mich bezwungen. Vernichtender als mit Waffengewalt, zerschmetternder als durch körperliche Überlegenheit.
Diese Augen verfolgten mich, sie blickten mich an, als man mich später ans Feuer schleppte, als man meine Mörderhand auf den Block legte und das Beil fiel. Sie standen vor mir, als man mir die Schlinge um den Hals legte, sie durchbohrten mich, als der Tisch unter mir umgestoßen wurde und folgten mir in jenes Niemandsland, aus dem kein Tag zurückführen soll.
In dieser furchtbaren Stunde, an die ich mich nur mit Schaudern erinnern kann, war mir die körperliche Angst, die jede Kreatur vor dem Sterben hat, stark von den Gewissensbissen verdrängt, die mich mein Leben verfluchen ließen, meine Gier nach Ruhm, meinen tödlichen Stolz, und mit jeder Minute wuchs mein Bedauern darüber, dass mir keine Zeit mehr blieb, meine Schuld gut zu machen. Immer sehnlicher wurde dieser Wunsch, der wuchs und wuchs und mich immer mehr erfüllte, und seinen Höhepunkt erreichte, als ich, schon mit gebrochenem Genick und doch noch für Augenblicke bei Bewusstsein, zurückfiel, woher ich einmal gekommen war.
Dazwischen oder nachher – wie hätte ich es unterscheiden können – wurde mir noch eine Erscheinung zuteil, die mir noch einmal den Schmerz der Trennung wachrief, um mich – von diesem durchdrungen – um so grausamer wieder der Nacht ausliefern.
Ich stand in meinem Kerkerraum, die Hände an die Stahlstäbe des Fensters gelegt, hochaufgerichtet, um einen Blick herauswerfen zu können, von einer Ahnung durchdrungen, die hieß: Argela.
Meine Beine zitterten, haltlose Schwäche machte mich hilflos wie einen Käfer mit ausgerissenen Beinen, auf den man tritt. Dazu hatte ich das Gefühl, als wäre mein Kopf vom Hals getrennt und nur lose auf einem aus dem Rumpf ragenden Stock befestigt; ich konnte ihn weder heben noch drehen; den ganzen Oberkörper musste ich zurückneigen, um überhaupt hinaussehen zu können …
Und Argela kam … zuerst die Spitze einer Deichsel, zwei Pferdeköpfe, deren Körper müde folgten, und dann sie! Auf dem Kutschbock sitzend, den Kopf geneigt, vor sich hinblickend … Kein Wenden des Kopfes, keine Geste, die ein Ansprechen auf jene Wellen inniger Gefühle angezeigt hätten, in das ich mich aufzulösen schien, als ich erkannte, dass ich nicht rufen, nicht reden, nicht einmal flüstern konnte. Ein Schrei, ein Laut, ja, nur ein Röcheln hätte sie aus ihrer Versunkenheit erweckt, und ich brachte keinen Ton heraus, kein Laut entrang sich meiner Kehle …
Würgende Krallen schienen meinen Hals umklammert zu halten, und Argela entschwand meinen Blicken. Ich aber brach auf dem Boden nieder und wollte nicht mehr sein.
Langsam bin ich am Ende meiner Geschichte angelangt, einer Geschichte, die, so unglaubhaft sie mir selbst scheint, doch ihre Spuren in mein Hirn unlösbar eingeprägt hat. Nie wieder werde ich so fröhlich lachen können wie früher einmal, nie wieder unbeschwert heiter sein. Und doch bin ich nicht mutlos, denn ich habe meine Schuld gebüßt. Mein schmerzender Armstumpf verursacht mir fast ein angenehmes Gefühl, die Mordhand ist verschwunden, und es ist mir, als wäre dies ein Zeichen, dass die Zeit der Strafe vorbei ist. Aber ich muss zu einem Ende kommen.
Ich habe berichtet, wie ich es erlebte, und es kann nicht alles Traum gewesen sein, das bestätigt mein zerschundener Körper, der Schmerz an meinem Hals und der blutige Verband meiner rechten Hand.
Ich bin mit meiner Schilderung bis zu dem Zeitpunkt gekommen, wo ich im Gefängnis zusammenbrach, und kann erst da fortsetzen, wo ich dadurch geweckt wurde, dass man versuchte, meinen Arm unter den Trümmern hervorzuziehen und dieser ohne Hand zum Vorschein kam. Ein Fliegerangriff, der der Befehlsstelle galt, hatte das Bürgermeisteramt getroffen, in dessen Keller ich eingeschlossen war, und mich halb verschüttet. Unter der Pflege mitleidiger Menschen war mein Arm besser geworden, mein Wille zum Leben aber schlummerte, bis ich einmal zufällig von jenem »grauen Turm« sprechen hörte, einer bis zu den Grundmauern verfallenen Ruine eines Wachtturms aus alten Zeiten.
Und dies weckte mich aus meiner Lethargie, es schreckte mich fast unsanft auf; ich verließ bedenkenlos meine guten Betreuer, denen ich nie so danken können werde, wie sie es verdienten. Ich hatte den Weg zu jenem Gemäuer genau erfragt und gelangte nach zwei Stunden dorthin. Es steht auf einer Anhöhe, von der man weit ins Land hinein sieht, gegen Norden bis hin zu den böhmischen Bergen, im Süden bis zum Dachstein und dazwischen Hügel um Hügel, Wälder und Wiesen, grauer Dunst schwebt darüber, wie ein violetter Schleier.
Argela ist nicht hier. Aber ich zweifle nicht daran: Sie kommt.
Ich habe mich in einer einfachen Jagdhütte neben der Ruine niedergelassen, wo ich sogar etwas zu trinken fand, und vertreibe mir die Zeit mit der Niederschrift meines Lebens, so weit es mir bedeutsam erscheint. Längst bin ich davon abgekommen, das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle daraus klären zu wollen.
Und doch hat meine Arbeit ihren Zweck erfüllt: Ich habe wieder Ruhe gefunden. Das Rätsel meines Lebens heißt Argela; seit Jahrhunderten schon, vielleicht seit jeher. Was kommt es da auf Stunden oder Tage an? Was hilft da Ungeduld und Nervosität? Das Rätsel wird gelöst sein, wenn die Zeit gekommen ist.
Durch das Fenster sehe ich über die friedliche Landschaft, kein Mensch verirrt sich hierher. Argela ist vielleicht noch weit, vielleicht aber schon nahe. Ich erwarte sie hier, es kann mir nicht zulange dauern.
Noch einmal überlese ich die eng beschriebenen Seiten. Können sie auch keine Fäden entwirren, so kann ich vielleicht Hoffnung aus ihnen schöpfen. Und wirklich, ich bemerke etwas, das mir bisher noch nicht aufgefallen war: »Im dritten Leben findet ihr euch!« So rief der Dorfnarr am Weiher unten bei meiner Festnahme. Ist jener Narr vielleicht ein Wissender, einer, der mehr vermag als die anderen, die ihn deshalb nicht verstehen können?
Die Entbehrungen und Anstrengungen der letzten Wochen hätten mich längst zugrunde richten müssen. Und ich lebe noch, ja, ich fühle mich besser als je zuvor, bin von meiner Krankheit ganz erholt und spüre keine Schmerzen mehr. Ich fühle sogar meine Hand, die unter Trümmern in der Erde fault, spüre jeden Finger. Nichts tut mehr weh!
Es muss das dritte Leben sein! Das neue Leben der Verheißung. So ist es bestimmt. Daran glaube ich … Die Vereinigung mit Argela steht bevor … Schon ist sie am Weg … Die Gewissheit meines kommenden Glückes durchbraust mich und macht mich schwach … und müde … Ich werde den Kopf auf meine Arme legen, mich auf die Tischplatte stützen und etwas schlafen … Und wenn ich aufwache, wird Argela bei mir sein. Und bei mir bleiben …
Entstehung der handschriftlichen Urfassung 1945/46
Korrekturen und Maschinenabschrift 1952
Uns trennt eine unsichtbare glasige Wand, darum kannst du mich nicht verstehen. Du sagst: »Es ist nicht so schlimm«, und: »Es gibt Ärgeres«. Doch du bist mir viel zu fern – der feuerrote Strich brennt zwischen uns, der Schlussstrich unter meine Hoffnung, meine Jugend, mein Leben. Du brauchst deine Augen nicht rücksichtsvoll von der Narbe zu lösen, die mein Gesicht zerschneidet, Stirn, Nasenwurzel, Wange. Du weißt, ich spreche von ihr. Oh, diese abirrenden Augen, diese betretenen Gesichter, dieses Mitleid. Der purpurne Strich zerteilt mich wie eine fehlerhafte Schulheftseite. Aber vielleicht zertrümmere ich die Trennungswand, du willst es. Ich werde dir erzählen, damit du gehst und schweigst. Und ich muss dann nicht mehr allein denken, immer daran denken.
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