Herbert W. Franke
Wiederentdeckte und erstmals gesammelte Erzählungen
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 30
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
AndroSF 130
Herbert W. Franke
DAS GUTENBERG-KONZIL
Wiederentdeckte und erstmals gesammelte Erzählungen
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 30
hrsg. von Ulrich Blode und Hans Esselborn
AndroSF 130
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Autor Herbert W. Franke wird vertreten durch AVA International GmbH, München, www.ava-international.de.
© Oktober 2020 by
p. machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustrationen: Thomas Franke
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Korrektorat: Ulrich Blode
Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p. machinery Michael Haitel
Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee
www. p machinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 218 8
ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 219 5
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 879 1
Teil 1: Unveröffentlichte Erzählungen
Die Aufzeichnungen des Bernhard Retroy, meinem Freund, den ich nie kannte.
Ich aber will zum Grund. Auf weichem Seegrund will ein Stein ich werden, ein glatter Kiesel, kühl und unbewegt. Nicht Alge soll, nicht Fisch, nicht Menschenfuß berühren die Form, die ich mir gab, um blind und stumm und ohne Blut die kleine Ewigkeit zu ruh’n …
García Lorca
Wir müssen wohl durch viele Leben gehen
Und tausend Jahre sind ein einz’ger Tag,
ein Steigen, Fallen und ein Flügelschlag,
ein Wiederkehren und ein neu’ Verwehen.
Ein jedes Leben prägte seine Spuren,
und brannte tief sie in die Seele ein,
jedoch verwischte uns’rem wachen Sein
ein gnadenvoll’ Vergessen die Konturen.
Das Dasein ist, wohin wir auch gesendet,
ein Steigen, Fallen und ein Flügelschlag,
und tausend Jahre sind ein einz’ger Tag,
bis wir zum letzten Leben uns vollendet.
Unbekannte Dichterin
Vorwort
Bevor ich die Notizen des Bernhard Retroy der Öffentlichkeit übergebe, seien mir einige Worte der Erklärung gestattet. Einer solchen bedarf es, so ungern ich mich auch dazu entschlossen habe. Einesteils für diejenigen, die mich kennen: meine Freunde, meine Kollegen und Bekannten, die in mir einen nüchternen Denker sehen dürften, der sich am liebsten auf festem Boden der Wirklichkeit bewegt und den alle unfundierten Hypothesen mit einem fast körperlichen Unbehagen erfüllen. Um so unerwarteter, wenn nicht beängstigender, muss ihnen daher die Art der hier gebotenen Veröffentlichung erscheinen, die ganz das Gegenteil von dem darstellt, was sie von mir erwarten. Ich sehe sie vor mir, wie sie die Köpfe schütteln und Vermutungen darüber anstellen, was diese unerklärliche Verwandlung hervorgerufen haben könnte, die aus einem Naturwissenschaftler einen Dichter gemacht hat, der sich auf der Flucht vor der Realität in ein Schneckenhaus des Transzendenten zurückzieht. Sie alle können jedoch beruhigt werden, und dazu bedarf es eben jener Erklärung.
Aber auch diejenigen, denen ich fremd bin, haben das Recht auf eine Erläuterung der Umstände, die mich zu einer derartigen Publikation bewogen haben. Das verlangt schon die Art des Stoffes.
Diesem Unbekannten, der durch das vorliegende Bändchen erstmals von mir bekannt gemacht wird, sollte niemand übel nehmen, was darin geschieht – ich am allerwenigsten. Schon gar nicht sollte man diesen Bernhard Retroy kurzerhand zu einem Fantasten stempeln. Das will ich gerade vermeiden.
So bitte ich um freundliche Entschuldigung, wenn ich das Dokument, das ich hiermit vorlege, mit einem Vorwort versehe, in dem die Umstände dieses Beginnens dargestellt sind, obwohl dabei Persönliches von mir angeführt werden muss, das keineswegs in den ursprünglich gegebenen Rahmen dieser Notizen passt.
Es waren die Kriegsereignisse, die mich zur Zeit des deutschen Zusammenbruches im Frühjahr 1945 in die Gegend des Mühl- und Waldviertels verschlagen haben, eine Gegend, die in Friedenszeiten unbeschreiblich schön ist und deren Reiz auch die Katastrophe des Krieges nicht völlig zu rauben vermochte. Wo sonst herrscht so vollendete Harmonie zwischen naturverbliebenen Landstrichen und bebauten Flächen? Wo sonst findet man noch diese beseligende Stille des Walddunkels, diese graziöse Anmut der Lichtungen, diese unbeschwerte Leichtigkeit im Wechseln von Feldern, Wiesen und Weihern? Farbenfrohe Gärten leiten von uralten Dörfern zu endlosen Waldungen über, da und dort treten sagenumwitterte Granitfelsen zutage. Die – heute fröhlich lärmenden Dorfjungen als Spielplatz willkommen – früher als Kultstätten düsterer heidnischer Bräuche dienten.
Als ich nach Kriegsende dort festsaß und vorderhand keine Möglichkeit sah, zu meinen Angehörigen zurückzukehren, hatte ich allerdings wenig Sinn für heitere Naturstimmungen, sondern war mit Gedanken über meine unangenehme Zwangslage vollauf beschäftigt. Lange hatte ich nichts mehr von den Meinen gehört, wusste nichts über ihr Ergehen und ihren Verbleib. Die Gefährlichkeit der bewegten Zeit tat das Ihrige dazu, um meine Unruhe zu vergrößern. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und ich verbrachte meine Tage zumeist, indem ich mich untätig herumtrieb, nur gelegentlich half ich bei Bauern aus, die dafür Naturalien spendeten.
Gerade ein solcher Handlangerdienst brachte jenen Zufall mit sich, der mir das in die Hand spielte, was mich jetzt – nach so langer Zeit – dazu veranlasst, mich mit Dingen abzugeben, die meiner üblichen Beschäftigung mit den exakten Wissenschaften diametral gegenüberstehen. Er äußerte sich nur in einem schwächlichen, ungewaschenen Kind, das an einem Brunnentrog saß und mit einem Bündel zerknitterter, eng beschriebener Papiere spielte. War es die Langeweile, die mich dazu bewog, einige Seiten zu glätten und zu überfliegen, oder fiel mir etwas Ungewöhnliches an diesem friedlichen Bild auf? Was ich da zu lesen bekam, war so seltsam, dass ich den Kleinen dazu überredete, mir das Zettelwerk zu überlassen, und sogar mein Taschenesser dafür opferte. Eilig zog ich mich dann in eine stille Ecke zurück und ordnete mühsam das unansehnliche Papierbündel, um es mit steigender Spannung durchzulesen. Eine eigenartige Welt eröffnete sich mir, eine Welt von Schuld und Liebe, von Rachedurst und Einsamkeit, in der sich Gegenwart und Vergangenheit durcheinandermengten und die mich doch irgendwie unmittelbar ansprach. Finstere Todesahnung und unstillbare Lebensgier schrien aus diesen Zeilen, übermenschliches Leid und nie erfüllte Sehnsucht.
Etwas nachdenklich geworden, begann ich meine eigene Lage mit anderen Augen zu betrachten, ich erinnerte mich daran, dass ich noch viel mein Eigen nennen durfte: meine Gesundheit, meine Freiheit, meine Verwandten, und dass es Menschen gab, die stets bereit wären, mir beizustehen, mir zu helfen. Meine Situation erschien plötzlich durchaus erträglich, und ich begann wieder, Hoffnung und Zuversicht zu schöpfen.
»Zurück zum dritten Leben«, so habe ich das Bändchen benannt, das aus meinem Fund hervorgegangen ist. Ob ich damit mehr gesagt habe, als für einen klingenden Titel notwendig ist, mag der beurteilen, der die Beschreibung der einmaligen Vorkommnisse so genau wie ich durchstudiert hat. Die Überschrift soll keineswegs eine Aussage über jenes dritte Leben sein, das dem Verfasser der Aufzeichnungen als Verheißung vorgeschwebt ist, höchstens ein Hinweis darauf, in welcher Richtung mir eine Lösung wahrscheinlich vorkommt. Überhaupt will ich mich jeder Stellungnahme enthalten; ich will nur Bote sein und Kunde übermitteln aus einem Bereich, der uns gewöhnlichen Menschen normalerweise verschlossen bleibt, gleichgültig, ob es sich um eine Welt der Wirklichkeit oder des Wahnes handelt.
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