In dieser Stunde vergaß ich zum ersten Mal das Hoffnungslose der allgemeinen Lage und meiner eigenen Situation. Meine Umwelt verschwand, ich war von der traurigen Umgebung gelöst, gehörte nicht zu diesen schnaufenden, schnarchenden Menschen, die den unsauberen Schuppen bevölkerten. Ein Gefühl von Einverständnis und Gemeinsamkeit überkam mich, so gering auch die körperliche Berührung war. Dieses so ungewohnte Wohlbefinden war für mich ein einmaliges Erlebnis, das wegen des Gegensatzes zu meiner sonstigen, ewig gehetzten Lebensweise, zu der ich gezwungen war, noch eindrucksvoller wirkte. Das Unangenehme der durchdringenden Kälte war verschwunden, eine angenehme Müdigkeit umfing mich und aus dem bisherigen halb bewussten Zustand sank ich in einen tiefen traumlosen Schlaf …
Als ich durch das Fluchen meines sich erhebenden Nachbarn aufgeweckt wurde, war mein erster Gedanke: Argela. Wie von einer Tarantel gestochen richtete ich mich auf: Die Plätze gegenüber waren leer! Ich sprang empor, spähte umher … nichts zu sehen! Vielleicht draußen! Ich schnellte über noch Schlafende hinweg, trat auf Kauernde, stieß die schon Erwachten beiseite, drängte mich durch das Tor und sah die Straße hinauf … Da, schon weit entfernt, kaum mehr erkennbar, bewegten sich zwei Gestalten … Sie mussten es sein! Ich stürzte in den Schuppen zurück, schlüpfte in die Schuhe, riss den Rucksack und Mantel an mich und strebte wieder hinaus … nur schnell, schnell … Hinter mir gellten Flüche und Verwünschungen … Ich hörte nichts, ich beachtete nichts … Die Straße entlang rennen … sie nicht aus den Augen verlieren … gleich werden sie im Wald verschwinden …
Jemand packte mich am Ärmel und hielt sich fest. Ein Unteroffizier.
»Loslassen!«
Ich versuchte, mich loszureißen.
»Bei dir ist wohl eine Schraube locker, Mensch, wie siehst du aus!« Eisern hielt er mich. Er blickte auf meine herabhängenden Schuhbänder, den Rucksack, den ich am Riemen nachzog, meine wirren Haare. Wie sollte ich Argela finden?
»So eine verrückte Tüte! Bringen Sie Ihre Klamotten in Ordnung und kommen Sie mit!«
Argela! Jetzt fiel mir auf, dass ich ihren Namen kannte, obwohl ich doch kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Langsam kam ich zur Besinnung. Ich sah das Mädchen vor mir, wie es sich über mich beugte, von der flackernden Flamme beleuchtet. Der Ausdruck des Gesichtes war nicht der gewesen, mit dem man einen Fremden anschaut, nein, deutliches Erkennen war in den dunklen Augen aufgetaucht. Der Mund hatte sich geöffnet, als wenn er etwas sagen wollte … und hatte doch geschwiegen. Was verband mich mit ihr?
»Na los, Mensch!« mahnte der Unteroffizier, scheinbar ein sehr geduldiges Exemplar seiner Gattung. Ich holte meine Feldmütze aus der Manteltasche hervor und stülpte sie über den ungekämmten Kopf, knöpfte die Bluse zu, zog den Mantel an … Schließlich folgte ich dem Mann in die Wehrleitstelle.
Was soll ich hier weiter berichten? Erwähnt sei nur, dass der nötige Stempel auf meinen Marschbefehl gedrückt wurde, dass ich Verpflegung fasste und mich dann trollen konnte.
Ich folgte der Straße westwärts, wohin ich vorher sinnlos gehetzt war. Alles zog in gleicher Richtung, weg von der nahen Front. Der Aufenthalt hatte mich fast eine Stunde gekostet. Was hätte mir das noch am Vortag bedeutet! Doch heute war ich entschlossen, dem Mädchen zu folgen. Doch was heißt: ich war entschlossen – es war wie ein Zwang, ich musste Argela wiedersehen, fragen, woher wir uns kannten. Mir blieb keine Wahl. Und so schritt ich tüchtig aus, noch war ich munter und frisch, die Sonne hing schon tief. Gleichmäßig setzte ich Fuß vor Fuß, Fuß vor Fuß.
Es waren damals unerwartet heiße Tage; ich gönnte mir keine Rast, stehen zu bleiben, zu trinken. Wenn ich zurückdenke, wird mein Gaumen trocken – ich nehme einen tiefen Schluck aus dem Mostkrug neben mir. Jetzt sehe ich, dass ich mich getäuscht hatte, wenn ich mir von meiner Schreibarbeit Beruhigung versprach. Beruhigung und Lösung von der Spannung! Wenn auch nur an meinem inneren Auge Szene um Szene abläuft, ich erlebe alles noch einmal, mich packt wieder das Fluidum der vergangenen Tage, reißt mich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Und doch! Es ist notwendig. Vielleicht lösen sich die großen Fragen von selbst. Schon werden mir manche Zusammenhänge klar, bilden sich aus früheren sinnlosen Einzelheiten; schon liegen manche bunten Steine des Mosaiks eng aneinandergefügt, wenn sie auch das große Bild noch nicht erkennen lassen.
Ich erlebe alles wieder. Fuß setze ich vor Fuß, immer wieder, über einen Teppich aus glatten Fichtennadeln und gefrorenen Buchenblättern. Zur Maschine bin ich geworden, die mechanisch gehorcht, ihrer Einstellung folgt, ohne zu denken, wozu, warum … Der Antrieb war so mächtig, dass mir die Sinnlosigkeit meines Tuns nicht zum Bewusstsein kam. Damals war es sinnlos. Einem fremden Menschen nachzulaufen, kilometerweit, ohne zu wissen, was die Begegnung bringen sollte. Damals war es sinnlos, die Kette war noch geschlossen …
Die Sonne hatte sich bereits wieder zum Sinken gewandt, ausgetrocknet war die Luft, der Staub fror an den Blättern ein, da sah ich, in der Ferne, die zwei Personen. Noch weit … Die Straße führte mich über den Scheitel einer Anhöhe. Eine weite hügelige Landschaft wellte sich vor mir, noch immer dieselbe, wie der vergangenen Stunden, und doch: jetzt ein Rahmen für die beiden Figuren, die sich kaum merklich von Ort und Stelle schoben.
Fuß setzte ich vor Fuß. Langsam, langsam kam ich näher. Dort vorn gewannen zwei Punkte Gestalt, Leben. Der eine war Argela … Sie blieb immer wieder zurück, schien angetrieben zu werden, holte auf, blieb wieder zurück …
Es dauerte noch lange und ging doch jetzt blitzschnell. Ich ging wieder langsamer, hielt den gleichen Abstand. Sie schritt vor mir … denselben Tag. Und davor ihr Begleiter. Ich brauchte nur meinen Arm auszustrecken, um ihre Schulter zu berühren, sie musste meine Schritte längst hören …
Doch dann konnte ich plötzlich nicht mehr. Meine Beine versagten. Ich war ja nicht gesund. Und stand still … Sie entfernte sich wieder. Meine Hand erreichte sie nicht mehr. Ein Vibrieren saß in meinen Kniekehlen. Mein Hals schmerzte. Auch Argela war erschöpft. Ihre Schritte waren kurz … unsicher, zögernd … und verlangsamten sich mehr und mehr. Jetzt blieb sie stehen … drehte sich um …
Längst hätte ich eine Beschreibung geben sollen, ihr Aussehen schildern – ich kann nicht.
Schön ist ein wolkiger Frühlingshimmel, wenn die Sonne aufgeht. Schön ist Sternenlicht, das sich in einer mondlosen Nacht im Spiegel eines Gebirgssees bricht. Die dunkle Schönheit Argelas, wer könnte darüber schreiben …
Das weiche Licht der Frühlingssonne umgab sie mit einem gleißenden Mantel.
Sie kam mir entgegen, näher, bis vor mich hin.
Heiser flüsterte ich: »Argela!«
»Ich heiße nicht Argela«, sagte sie, und ihre Stimme war weich wie schwarzer Samt, »ich heiße Marga.«
»Woher kennen wir uns?«, rief ich und streckte die Hand nach ihr aus. Die Frage brannte hinter meinen Augen.
»Ich weiß es nicht …«
»Dann haben wir uns gesehen?«
»Gesehen? – … es muss lange her sein …« Sie sagte es leise, und ihre Hand bebte in der meinen.
Wir schwiegen, und ich hielt das warme Bündel der Finger wie einen scheuen verwundeten Vogel. Glückhaftes Verstehen erfüllte uns, und doch spürten wir das unerklärlich Gefahrdrohende der Situation, das Folgenschwere unter der Oberfläche. Das Meer der durcheinanderströmenden Gefühle bildete Strudel, die uns herabzureißen und zu verschlingen versuchten.
Das dauerte nur Sekunden, dann rief eine kalte Stimme.
»Warum, zum Teufel, bleibst du stehen?!«
Wir haben das Rufen des Begleiters von Argela überhört, sein Nahen übersehen.
Читать дальше