1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 Ohne Hast bereitete ich mir eine ausgiebige Mahlzeit aus lauter Dingen, die ich schon jahrelang nicht zu Gesicht bekommen hatte. Wunderbar gestärkt erhob ich mich und suchte mir passende Kleider in Zivil. Bald sah ich aus wie ein Landstreicher und kam mir doch wie neugeboren vor. Sorgfältig stopfte ich meine spärlichen Habseligkeiten in die Taschen meines neuen Gewandes.
Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich Rucksack und Mantel im Wohnwagen vergessen hatte, und ich lächelte darüber. Mein militärisches Äußeres war abgestreift, ich brauchte keine Menageschale mehr, keine Gasmaske, kein Gewehrputzzeug, nichts von diesem unnützen Kram. Um die Umwandlung endgültig zu machen, zerknüllte ich den Marschbefehl, zerriss das Soldbuch und steckte beides in Brand, sodass bald nur ein Häufchen kärglicher Asche und etwas stickiger Geruch übrig waren.
Schließlich steckte ich Brot und Wurst zu mir, nahm noch einige tiefe Züge aus der Milchkanne und machte mich dann auf den Weg. Denn für mich stand fest: Ich musste Argela erreichen, ich wollte sie mit mir nehmen und mit ihr fortgehen, irgendwohin, wo es keine Menschen gibt außer uns beiden, wo man zu den Blumen sprechen kann und die Sonnenstrahlen die Haut mit weichen Fingern streicheln.
Nun setze ich meine Niederschrift fort. Unversehens bin ich ins Träumen geraten. Ich stand mit Argela in hohem Gras, das sich weich an unsere Beine schmiegte, und wir blickten über ein Land, in dem es keine grauen Farben gab und das in der Ferne direkt in den Himmel überging, einen tief dunkelblauen Himmel …
Ich war verwirrt, und daran war meine Schwäche schuld. Das bisschen Schreibarbeit war schon zu viel für mich, es wird auch ein Weilchen dauern, bis ich wieder kräftig und ausgeruht bin. Die letzten Seiten schrieb ich im Licht einer Petroleumlampe, die ich am Türstock an einem Nagel hängend gefunden habe. Ich muss ziemlich lange geschlafen haben, schon lichtet sich im Osten ein milchiger Morgen, das Ölflämmchen ist fast heruntergebrannt, doch es reicht noch für meine Schreibarbeit.
Ich soll jetzt dort fortfahren, wo ich unterbrochen habe. Doch es wird genügen, die folgenden Stunden nur flüchtig zu streifen. Die stehen mit meinem Schicksalsweg nur in mittelbarem Zusammenhang.
Vorher erwähnte ich, wie wenig es mich interessierte, wer bei dem Gefecht gewonnen hatte. Doch nun sollte ich es zu spüren bekommen, wie wichtig diese Entscheidung für mich war. Wie ich bemerkte, hatten die unseren den Kürzeren gezogen und sich zurückgezogen. Ich befand mich also im Feindesland, zwischen mir und Argela dehnte sich die Frontlinie.
Wie es mir gelang, mich durchzuschlagen, will ich übergehen. Für den kurzen Weg, für den wir beim Hermarschieren nur wenige Stunden benötigt hatten, brauchte ich nun drei Tage. Straßen und Wege durfte ich nicht benutzen, musste mich vor jeder Uniform hüten, gleichgültig, ob sie nun lehmbraun oder feldgrau war. Ohne Orientierung irrte ich durch die Wälder, verlor immer wieder die Richtung, musste umkehren und erneut weitersuchen. Jede Truppenansammlung zwang mich zu zeitraubenden Umwegen, Nahrung bettelte ich mir bei Bauern zusammen, die Mitleid mit mir hatten. Langsam begann ich die Hoffnung zu verlieren, dass der Wagen überhaupt noch an der Stelle stünde, wo ich ihn verlassen hatte; dennoch schwebte mir das kleine Dorf wie eine Stätte der Verheißung vor, denn ich war sicher, dass mir Argela irgendeine Spur zurückgelassen haben würde, die mich unfehlbar zu ihr leiten könnte.
Als ich nach Aufbruch der Dunkelheit am Ende des dritten Tages das Dorf wirklich erreichte, befand ich mich in einem völlig heruntergekommenen Zustand, die Schuhe waren durchlöchert, Hose und Rock hingen in Fetzen vom Leib, gegessen hatte ich untertags überhaupt nichts mehr, zudem war ich das letzte Stück meines Weges mehr gelaufen als gegangen. Es war mir gewesen, als wäre jede Minute kostbar, jedes Zaudern nicht wiedergutzumachen.
Erst nach dem Überwinden der letzten Anhöhe bescherte sich mir ein Anblick, der mich mit einem Male meine Müdigkeit vergessen ließ. Unten am Dorfplatz, im letzten schwachen Licht des verdämmernden Tages gerade noch erkennbar, ruhte der braune Fleck der Deckplache von Argelas Wagen. Noch trennte mich eine Viertelstunde von diesem meinem Ziel, und ich rannte wie ein Irrsinniger los, sodass ich bald keuchend einhalten musste, die Hände an meine schmerzende Brust gepresst …
Doch bald ging es weiter, zwar vorsichtiger, aber dafür in stetigem Tempo, meinen Wünschen entgegen. Noch war es nicht ganz finster, als ich zu den ersten Häusern kam, doch meine Sehnsucht war so groß, dass sie sich nicht länger zurückdrängen ließ. Ich konnte die völlige Dunkelheit nicht abwarten, so notwendig das auch gewesen wäre. Und diese Unvorsichtigkeit sollte sich rächen. Wie hätte ich auch ahnen können, dass gerade dieses Dorf als Hauptquartier einer der letzten Truppeneinheiten auserwählt worden war und deshalb scharf bewacht wurde.
Als ich mich beim ersten Gebäude vorbeischleichen wollte, erscholl ein lautes »Halt, Losungswort!« hinter mir und ein Posten stürmte aus der Tür. Dieses Hindernis im letzten Moment verursachte mir einen ungeheuren Schreck. Kopflos lief ich die Straße entlang, ein Schuss ertönte, und etwas streifte die Mauer neben mir. Dann war ich hinter der nächsten Ecke verschwunden, während alarmierende Rufe aufklangen. Schon wurde es lebendig, gerade noch erreichte ich den Wagen und konnte unbemerkt hineinschlüpfen.
Argela war hier! Auf dem Lager, wo ich mich einst von meinem Sturz erholt hatte, lag sie, aus den schwarzen Decken schaute das Gesicht hervor, ein schmales Gesicht von fast durchsichtiger Blässe, in dem die Augen den meisten Platz einzunehmen schienen.
Noch war ich nicht in den trüben Schein der Öllampe getreten, Argela konnte mich nicht erkennen.
»Wer ist da?«, fragte sie, die Stimme klang müde und gleichgültig.
Draußen brandete Lärm auf. Einen Moment durchzuckte mich eine unsägliche Trauer: warum man einen wehrlosen Menschen so mitleidlos hetzen musste? Dann aber dachte ich daran, dass es sich vielleicht nur um Sekunden handeln konnte, bis man mich von Argela wieder Fortriss. Wortlos flog ich auf sie zu, wir klammerten uns aneinander, wir küssten uns mit unbeschreiblicher Glut, eine Woge von Leidenschaft trug uns fort …
Erst langsam begann dann mein Denken wieder zu funktionieren, ich fragte, wie es ihr ergangen war, wieso der Wagen noch hier sei.
»Ich habe eine Radachse zerhackt«, antwortete Argela und drängte sich an mich; doch ihr Ausdruck wurde ängstlich und bekümmert, der Lärm von draußen drang erst jetzt in ihr Bewusstsein. Ich hob einen Zipfel des Tuches und spähte hinaus. Und was ich sah, erfüllte mich mit neuer Angst. Eine Patrouille suchte Haus um Haus systematisch durch, ein Scheinwerfer beleuchtete die Fassaden der Bauernhäuser, verängstigte Frauen und Kinder wurden aus den Häusern getrieben. Noch waren wir im Wagen sicher, doch immer näher kam das Geschrei.
»Wir müssen fort!«, rief ich mit gedämpfter Stimme, »steh’ auf, beeil dich!«
Argela versuchte sich aufzurichten, doch sank matt auf das Kissen zurück.
»Was hast du?«, flüsterte ich erschrocken. »Bist du krank?« Ihr schlechtes Aussehen fiel mir erst jetzt auf.
Es gelang ihr, aufzustehen.
»Es ist nichts Ernstes«, sagte sie, doch sie musste sich auf mich stützen, »ich bin nur etwas schwach, es dreht sich alles!«
Sorge stieg in mir auf, eine Angst, die mich eine Sekunde zögern ließ. Doch ich musste handeln … Ich hob die Plache an der dem Licht abgewandten Seite und half Argela, hier hindurchzukommen. Dann hob ich sie mit beiden Armen auf, sie hielt sich an meinem Hals fest, und vorsichtig im Schatten verbleibend versuchte ich, sie fortzutragen …
Welch vergebliches Bemühen! Längst waren alle Wege, die aus dem Dorf hinausführten, besetzt, außerdem war ich so schwach, dass ich den zarten Körper kaum mehr halten konnte … An eine Mauer gelehnt stand ich da, das Mädchen an mich gepresst und sah ein, dass alles aus war.
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