Ihr Leben vollzieht sich ausschließlich in Bab al-Louk oder an den nahegelegenen Maidans, Talaat Harb und Tahrir, während sie von den Projekten träumen, die sie hier verwirklichen wollen.
Und hatte es sich bei Simon nicht ebenso verhalten?
Ich kannte dieses Café von früheren Reisen, meine Besuche dort ließen sich aber an den Fingern einer Hand abzählen. Und sie hatten immer nur tagsüber stattgefunden, wenn ich im nahegelegenen Restaurant Nile auf der anderen Seite des Platzes Fisch gegessen hatte. Hätte Simon mir nicht vorgeschlagen, uns in diesem Café zu treffen, wäre ich gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, dass irgendetwas daran für mich interessant oder bedeutsam hätte sein können. Zwar war es nur einer von mehreren Orten, an denen wir uns unterhalten sollten (immer auf Simons Vorschlag hin), doch das Café war unser erster Treffpunkt, und er hatte es, wie er mir versicherte, nicht zufällig gewählt. Vielmehr handelte es sich um jenes Café, das er vor Jahren bei seiner Ankunft in Kairo als erstes aufgesucht hatte. Allerdings war es damals wohl noch nicht so voll gewesen wie in jüngster Zeit, weshalb ich auch regelrecht Mühe hatte, ihn zu finden. Was nicht etwa daran lag, dass er diesmal einen schwarzen Anzug, Hut und eine dunkle Brille trug – tatsächlich war sein Aufzug dazu angetan, alle Blicke auf sich zu ziehen, obgleich er wohl gedacht haben musste, sich auf diese Weise unkenntlich zu machen –, nein, ich konnte ihn deshalb so schwer ausmachen, weil er in einer abgelegenen Ecke ganz hinten im Café saß. Er war schon vor mir eingetroffen und hatte bereits im Voraus ein paar Flaschen Bier geordert, die er auf dem Tisch bereitgestellt hatte, um nicht später auf den Kellner warten zu müssen, der angesichts der Vielzahl an Gästen, die etwas von ihm wollten, seine Schwierigkeiten hatte, alle Wünsche zügig zu erfüllen. Außerdem wollte Simon verhindern, dass wir von jemandem unterbrochen wurden. Dass das Bier nicht kühl bliebe, sei nicht weiter schlimm, meinte er und griff nach einer Flasche, warmes Bier sei schließlich gesund.
»Auf deine Entscheidung«, sagte er, während wir anstießen, »Du hast mich also nicht enttäuscht, sondern bist geblieben. Genauso kenne ich dich! Danke dir!«
»Der Dank gebührt dir«, erwiderte ich freundlich, »ich bin sehr neugierig, was auf mich zukommt. Auf jeden Fall bleiben wir optimistisch«.
Nachdem wir einen Schluck getrunken hatten, erklärte ich – vielleicht, um ins Gespräch zu kommen, einer von uns musste ja schließlich den Anfang machen –, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, ihn an irgendeinem öffentlichen Ort zu treffen, da dies für ihn ja gefährlich sein könnte. Er lächelte, bedankte sich, dass ich mir solche Sorgen machte, und gab mir zu verstehen, es sei ihm vor allem um die Schriftstücke gegangen. »Und da die jetzt bei dir in Sicherheit sind, ist mir alles andere egal.« Für ihn bleibe nun nichts weiter zu tun, als ein wenig Vorsicht walten zu lassen. »Den Rest überlassen wir dem Zufall.«
Dann forderte er mich auf, ihm gut zuzuhören, da er nun noch einige über die Hefte hinausgehende Dinge ansprechen wolle. Vor allem aber, bat er eindringlich, dürfe niemand hier den Namen der Verfasserin mitbekommen. »Du weißt, wen ich meine«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu.
»Ich habe bis jetzt nur die ersten beiden Hefte gelesen«, erklärte ich und sagte mit einem Lächeln: »Siehst du, einmal habe ich meinen Aufenthalt wegen Kismet um ein Jahr verlängert, und jetzt weiß ich nicht einmal, wie lange ich bleibe. Und beide Male wegen einer Frau. Cheers!« Ich hob meine Bierflasche.
»Ich verstehe«, sagte er, »du hast also bis jetzt erst zwei der Hefte gelesen. Doch was ich dir nun erzählen werde, wird dich bestimmt dazu bringen weiterzulesen.«
Der Beginn seiner Geschichte, erklärte er, liege in ferner Vergangenheit, genauer, in der Zeit seines Studiums an der University of Michigan.
»Erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen?«, fragte er und vergewisserte sich nach allen Seiten blickend, dass uns niemand im Café beobachtete. »Weißt du noch, wie ich dir damals von meiner Arbeit an dem Wörterbuch erzählt habe?« Ihm war natürlich klar, dass ich mich noch daran erinnerte. Das Wörterbuchprojekt war seine Lebensaufgabe, sagte er nun. Früher hatte ich gar nicht nachvollziehen können, wie die Arbeit an einem Wörterbuch zu einer solchen Leidenschaft hatte werden können. Oft hatte er mir zu verstehen gegeben, dass dieses Wörterbuch, an dem er gearbeitet hatte und vielleicht noch immer arbeitete oder das er aufgrund der Dinge, die ihm in den letzten Jahren widerfahren waren, liegengelassen hatte, sich wesentlich von allen anderen Wörterbüchern unterschied. »Leider habe ich dir die Hintergründe damals nicht genauer erläutert, ich habe dummerweise nur ganz allgemein davon gesprochen. Vielleicht hatte ich Angst, du klaust mir die Idee, wer weiß!«, sagte er, seine Bierflasche noch immer in der Hand. Erneut stießen wir an.
»Cheers«, sagte ich, und er begann zu erzählen.
Sein Bruder Gerry, der vor Jahren Rabbiner geworden war, und zuvor als Offizier bei den Marines gedient hatte, war zehn Jahre älter als Simon. Doch trotz Simons Jugend, er war damals vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, war ihm etwas an der Art und Weise aufgefallen, wie sein Bruder redete, wenn er auf Urlaub nach Hause kam. Doch wenn er seinen Bruder nach diesen Ausdrücken fragte, die ihm unklar und neu erschienen, lachte dieser nur und sagte, so sprächen sie eben bei den Marines.
Simon wusste nicht mehr, wann er begonnen hatte, sich für die Frage zu interessieren, ob denn alle Soldaten weltweit solch eine eigene Sprache besäßen. Doch er erinnerte sich, dass ihn diese Frage lange umgetrieben hatte. Manchmal hatte er nächtelang nicht schlafen können. Als er sich ein kleines Heft anschaffte, um hier und da ein Wort zu notieren, das er von seinem Bruder aufgeschnappt hatte, war ihm noch nicht bewusst, dass sein Wortschatz mit der Zeit immer weiter anwachsen und dieses kleine Heft von zahlreichen größeren abgelöst werden sollte. Sein Bruder hatte sich nicht geizig gezeigt und ihn mit sämtlichen Wörtern versorgt, die ihm geläufig waren. Und als Simon schließlich auf die Universität kam, sollte er Linguistik studieren und sich auf die Sprache der Soldaten spezialisieren.
So hatte das Ganze seinen Anfang genommen, und im Laufe der Zeit hatte er begonnen, Abhandlungen über die Soldatensprache zu schreiben: Flüche in der Soldatensprache, Erotik in der Soldatensprache, Humor in der Soldatensprache und andere Titel mehr. Sein Professor hatte es anfangs als eher befremdlich empfunden, dass er sich allein mit solchen Themen beschäftigte, und darin nur eine vorübergehende Liebhaberei erblickt, wie sie in den ersten Universitätsjahren bei Studenten zuweilen vorkommt. Simon allerdings hatte unbeirrt an seinem Lieblingsthema weitergeforscht, war ganz darin aufgegangen, weshalb ihn sein Professor schließlich zu einer Unterredung in sein Büro bat. Er war ein kritischer Geist, wie die meisten seiner Professorenkollegen an der University of Michigan in Ann Arbor, die der Generation der Studentenbewegung der Sechzigerjahre angehört hatten und für jedes neue Thema ein offenes Ohr zeigten. Zwischen den beiden hatte sich ein tiefgreifendes Gespräch entsponnen. Der Professor hatte Simon nach seinen Quellen gefragt und den Grund wissen wollen, warum ihn die Soldatensprache so beschäftige. Und Simon hatte ihm nicht nur alles ausführlich erläutert, sondern sich darüber hinaus unbeschreiblich glücklich gefühlt, den Professor auf sein Thema aufmerksam gemacht zu haben. »Sie glauben also, die Soldaten haben eine eigene Sprache?«, hatte ihn der Professor gefragt. »Ja, das ist meine Überzeugung. Und meine Forschungen bestätigen es«, lautete die Antwort des jungen Studenten. Während des Gesprächs notierte sich der Professor immer mal wieder ein paar Wörter, die Simon erwähnt hatte, darunter vor allem jene, die er in seinen Studien zitierte. Bevor Simon schließlich nach einer mehr als zweistündigen Unterhaltung das Büro verließ, äußerte der Professor, dass ihn tatsächlich einige Wörter stutzig gemacht hätten, weil er sie nicht verstanden habe. Sie seien sicherlich Teil des Wortschatzes der Marines, weshalb es ihn sehr freue, wenn Simon sie ihm übersetzen würde. Und in diesem Moment war Simon blitzartig die Idee gekommen: ein Wörterbuch!
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