Wie viel Wahrheit braucht die Wahrheit? Durch vorsichtiges Herantasten hat der Sterbenskranke die Möglichkeit, von der Wahrheit so viel anzunehmen, wie er in dieser Lebensphase ertragen kann.
Ein Hospizhelfer besucht Frau H., die vor wenigen Tagen vom Arzt mit der Diagnose „Bauchspeicheldrüsenkrebs” konfrontiert worden ist. Frau H. beginnt ein Gespräch mit den Worten: „Lohnt es sich denn überhaupt noch, ein neues Kleid zu kaufen”? Die qualifizierte Hospizhelferin wird unter Berücksichtigung von aktivem Zuhören artikulieren: „Haben Sie das Gefühl, dass die Zeit nicht mehr reicht, das Kleid zu nutzen?”
Mit dem Spiegeln der Frage eröffnet sich dem Sterbenskranken die Möglichkeit seinem eigenen Gefühl nachzuspüren. I. d. R. erfolgt die Antwort: „Es wird ja nicht mehr lange dauern” oder „Ich glaube, es ist bald zu Ende”. Das offene Gespräch ohne Interpretation durch den Hospizhelfer kann jetzt weitergeführt werden durch das direkte Fragen: „Heute fühlen Sie sich sehr schlecht?”
Diese Art des offen Miteinander-Redens gibt dem Kranken den notwendigen Raum, sich mit der Wahrheit weiter auseinander zu setzen und seinem gegenwärtigen Gefühl Ausdruck zu verleihen: „Ich bin froh, einmal darüber reden zu können”, oder aber er kann sich entscheiden, die Wahrheit weiter zu verdrängen.
Dann lautet hier oft die Antwort: „Vielleicht kaufe ich mir doch das Kleid.”
Für Angehörige und Hospizhelfer ist somit das Aushalten im Sinne von Dasein und Zuhören die wichtigste Begleitformel am Sterbebett. Das genannte Beispiel zeigt die typische Ambivalenz von Wahrheit und Verdrängung, die die Handlung eines Menschen in dieser existenziellen Situation bestimmen kann, ohne jedoch Allgemeingültigkeit zu besitzen.
These
Ohne Beziehung des Sterbenskranken gibt es keine Selbstbestimmung
Der Sterbenskranke wird entmündigt und muss sich in seiner letzten Lebensphase starren Strukturen und Hierarchien unterwerfen.
Das Postulat eines selbstbestimmten Sterbens setzt voraus, dass der Kranke den Sterbeort und die Begleitung bestimmen kann. Das ist aber nur dann möglich, wenn nicht über ihn entschieden wird, sondern der Entscheidungsprozess für die letzte Lebensphase unter direkter Beteiligung des Betroffenen erfolgt.
Ein typisches Beispiel hierfür ist die Anmaßung von Angehörigen, über das, was der Kranke an Wahrheit ertragen kann, zu entscheiden und damit Maßnahmen über ihn und nicht mit ihm zu treffen.
These
Nur in einem engen interdisziplinären Netzwerk ohne Berücksichtigung der Eitelkeiten ist die Betreuung eines Sterbenskranken im Sinne der Hospizidee möglich.
Viele Beispiele der Gesprächsführung enden in Verletzungen und Missverständnissen und reflektieren nicht das Wesentliche.
Herr M., 49 Jahre, alkoholabhängig, an Speiseröhrenkrebs erkrankt, lag in einer größeren Klinik. Die Familie war aufgrund der vorangegangenen Ereignisse zu keiner Kontaktaufnahme fähig.
Der Fokus auf den Sterbenskranken
Im Gespräch eröffnete der Erkrankte seinen Wunsch nach Entlassung in seinen Heimatort. Durch eine gute Kooperation zwischen Klinik und Hospiz und die vorangegangenen beispielhaften Gespräche zwischen Patient und Seelsorger gelang die Entlassung. Der Hospizdienst baute mit Unterstützung des Hausarztes einen Kontakt zur Familie auf und entsprach damit dem ausdrücklichen Wunsch des Sterbenskranken. Ein langsames Herantasten und sensible Gesprächsführung gaben allen Beteiligten in dieser Lebensphase die Möglichkeit, im wahrsten Sinnen des Wortes noch etwas in „Ordnung zu bringen”.
Dieses Beispiel zeigt, dass, mit Fokussierung auf den Sterbenskranken, gelungene Interaktion und Kommunikation beweisen, wozu hospizliches Denken und Handeln führen kann.
1Die Adressen der genannten Verbände lauten:
Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz e. V., Am Weiherhof 23, 52382 Niederzier
und
Internationale Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbeistand e.V., Postfach 14 08, 55384 Bingen
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