Bei keinem der genannten Autoren erfüllt die Literatursatire die Funktion der Selbstvergewisserung. Hier ist Lenzens Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum singulär. Auch der Auftritt des Satireschreibers im Stück selbst bleibt die Ausnahme. Erst Christian Dietrich GrabbeGrabbe, Christian Dietrich wird den Selbstauftritt des Autors in einer Satire in seinem Stück Scherz, Satire, Ironie und tiefere BedeutungScherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung von 1827 wieder geschickt dramaturgisch nutzen. Außerdem ist keine der Literatursatiren der 1770er-Jahre so erzwungen defensiv angelegt wie Lenzens Stück. Der Autor muss sich bereits gegen die zunehmende kommunikative und soziale Isolation verteidigen, an deren Ende schließlich als Folge subtiler Diffamierung die Psychiatrisierung durch die ehemaligen Freunde und Sturm-und-Drang-GruppenmitgliederSturm und Drang steht. Zugleich macht das Pandämonium Germanikum nochmals deutlich, dass schon im Bewusstsein der Sturm-und-Drang-Autoren selbst die Theorie der Einzigartigkeit im GeniepostulatGenie zu einer gewollten literarischen und sozialen Exklusivität führt. Die produktionsästhetischeProduktionsästhetik Voraussetzung von Genialität ist im Pandämonium Germanikum in ein Elitebewusstsein umgekippt, auch wenn es noch als Traum, gleichwohl als visionärer Traum, camoufliert wird.
Johann Georg SchlosserSchlosser, Johann Georg Anti-PopeAnti-Pope (1776)
Am 25. März 1789 nachmittags schreibt Charlotte von LengefeldLengefeld, Charlotte von an Friedrich SchillerSchiller, Friedrich:
„Ich möchte daß es eine gute Uebersezung von PopensPope, Alexander Versuch über den Menschen gäbe, es ist erstaunend viel Schönes darin, und so gut gesagt, ich denke es würde Ihnen gefallen, ich las lezt wieder einige stellen die ich möchte gut übersezen können um sie Ihnen mit zu theilen.“ (Schiller: NA, Bd. 33/1, S. 324)
Schiller antwortet darauf bereits einen Tag später am 26. März 1789:
„Von Popens Versuch existiren einige Uebersetzungen, wovon die eine glaube ich von Schloßers Hand ist. Schloßer hat auch einen Antipope gemacht, worinn er den Versuch vom Menschen poetisch widerlegt. Die andre Uebersetzung ist kalt und flach“ (Schiller: NA, Bd. 25, S. 233).
Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich Schiller an ein Buch von SchlosserSchlosser, Johann Georg erinnert, das bereits im Jahr 1776 erschienen war und das mutmaßlich, denn gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse liegen über die Frage der RezeptionRezeption dieser Schrift nicht vor, keine Massenlektüre darstellte. „Es ist kein Wunder, wenn sich keine Rezension über diesen Anti-Pope findet. Er scheint überhaupt kaum gewirkt zu haben“1, resümiert Erich LoewenthalLoewenthal, Erich. Auch von Schlossers Schweizer Freunden IselinIselin, Isaak, KaufmannKaufmann, Christoph und LavaterLavater, Johann Caspar sind keine Reaktionen überliefert.2 Ein Faksimile des Titelblatts ist im Ausstellungskatalog von 1989 Johann Georg Schlosser abgebildet. Allerdings wird dort ein Exemplar mit Druckort „Bern bey Beat Ludwig Walthard, 1776“3 gezeigt, während mir selbst ein Exemplar mit den Angaben „Leipzig, 1776 in der Weygandschen Buchhandlung“ vorlag. Ich vermute, dass es sich bei dem Berner Druck um einen unrechtmäßigen Nachdruck handelt. Denn SchlosserSchlosser, Johann Georg selbst schickte ein Belegexemplar mit Widmung in die Schweiz an den Freund BodmerBodmer, Johann Jakob. In der Züricher Stadtbibliothek wird ein Exemplar des Anti-PopeAnti-Pope – übrigens ebenfalls von dem Leipziger Druck – aufbewahrt, das von Schlossers Hand eine Widmung an Bodmer enthält. Bodmer war der Vorbesitzer des Buchs:
„O Bodmer rufest Du vor Dein Gericht
des deutschen kühne Klag, den falschen Trost des Britten;
Sey billig, tadle nicht;
Wir leiden noch, du hast bald aus gelitten.“4
Auch anderen Freunden und Teilnehmern der sogenannten Zirkularkorrespondenz Schlossers schenkte der Verfasser den Anti-PopeAnti-Pope . In einem unveröffentlichten Brief vom 28. Juli 1776 an Gottlieb Konrad PfeffelPfeffel, Gottlieb Konrad (1736–1809) und Franz LerseLerse, Franz Christian (1749–1800), der in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. aufbewahrt wird, heißt es gleich zu Beginn: „Ich schike Ihnen hier das lezte Exemplar vom Antipope das ich habe. Lesen Sie ihn mit Parteylichkeit für ihren Freund. Das arme Büchlein wird wunderlich mißhandelt. Den einen ists Evangelium, den andern Antichrist.“ Demnach muss der Anti-Pope in der ersten Jahreshälfte 1776 erschienen sein. Sogar in der Korrespondenz von Goethes MutterGoethe, Catharina Elisabeth findet sich eine, wenngleich auch bescheidene, Spur des Anti-Pope . An WielandWieland, Christoph Martin schreibt Frau Goethe über ihren Schwiegersohn Schlosser, der mit ihrer 1777 verstorbenen Tochter CorneliaGoethe, Cornelia (geb. 1750) in Emmendingen verheiratet gewesen war, oder über das Buch selbst am 24. November 1778: „Lieber Sohn! Habt die Güte und bestelt innliegende Briefe auf beste – bey dem Anti-Pope ist auch alles besorgt, jeder hat so seine Art und Kunst“5. Das muss sich nun freilich nicht auf das gleichnamige Buch Schlossers beziehen, denn wie der Kommentar zu dieser Briefstelle ausweist, hatte Wieland für Schlosser den Spitznamen Anti-Pope aufgebracht.6
Die enge Freundschaft zwischen dem Sturm-und-Drang-DichterSturm und Drang Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold und SchlosserSchlosser, Johann Georg ist belegt, sie soll an dieser Stelle nicht nochmals in der Wiederholung der Fakten dokumentiert werden.7 Lediglich ein Aspekt gewinnt an Bedeutung, und das ist die Tatsache, dass Lenz den Emmendinger Freund in die Straßburger Deutsche Gesellschaft, deren Sekretär Lenz war, einführte. Das Protokoll der Sitzungen, soweit es uns durch Stöber mit den Korrekturen von Froitzheim überliefert ist, bemerkt dazu: „Den 16ten Febr. [1776] las Herr Lenz ein ursprünglich englisch geschriebenes von ihm selbst in’s deutsche übersetzte Gedicht des Herrn Hofrath Schlossers bis auf den 1ten Brief vor: Antipope genannt“8. Aber worauf bezieht sich dieses „von ihm selbst“, auf Lenz als Übersetzer oder auf Schlosser, der dann Autor und Übersetzer in einer Person gewesen wäre? Natürlich wissen wir, dass sich Lenz über dieses Vorlesen hinaus mit PopePope, Alexander beschäftigt hat. In seinem Werk gibt es durchaus eine Pope-Lesespur, die belegt, dass sich Lenz immer wieder zu unterschiedlichen Zeiten mit dem Werk des Engländers beschäftigt hat. Eine inhaltliche Analyse müsste dies sorgfältig über die eigentlichen positivistischen Stellenbelege hinaus verfolgen, doch soll dies nicht Ziel dieses Kapitels sein. Halten wir uns an die Fakten und versuchen wir eine chronologische Rekonstruktion, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit der wichtigsten Belegstellen erheben zu wollen, so ergeben sich folgende acht Gesichtspunkte:
1.) In seiner Berichtigung einer Anekdote den Dichter J.M.R. Lenz betreffendBerichtigung einer Anekdote den Dichter J.M.R. Lenz betreffend berichtet Friedrich NicolaiNicolai, Friedrich (1733–1811), dass ihm Lenz auf dem Weg von Königsberg nach Straßburg bei seiner Durchreise in Berlin 1772 eine „Uebersetzung von Popens Essay on CriticismEssay on Criticism in deutschen Alexandrinern“9 zur Beurteilung vorgelegt habe. Lenz brachte demnach bereits ein Manuskript aus Königsberg mit, und diese PopePope, Alexander-Übersetzung kann zu den frühesten literarischen Arbeiten von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold gerechnet werden. Leider ist sie nicht erhalten.
2.) Lenz verfasste die Schrift Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773 , die bereits zwischen 1772 und 1774 entstanden ist. Gedruckt wurde sie erst 1775, übrigens in demselben Verlag (die WeygandWeygand, Johann Friedrichsche Buchhandlung), in dem auch Schlossers Anti-Pope veröffentlicht wurde. Lenz schreibt am Ende:
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