Der Präsident hatte drei Kinder. Seine Tochter Karoline Wilhelmine Sophie Luise (*1761 in Saarbrücken) starb 1797 als Stiftsdame des Cronstettischen Stiftes in Frankfurt. Der älteste Sohn des Präsidenten Ludwig Franz Justinian Maximilian Anton Karl v. Günderode (*18. März 1763 in Saarbrücken) war in Saarbrücken Oberstleutnant und Hofmarschall und erhielt als Besoldung neben freier Kost und Logis 500 fl. Er emigrierte in der Französischen Revolution und wurde 1797 von Usingen nach Cadolzburg geschickt, um die Beisetzung des Fürsten Heinrich zu veranlassen. In Frankfurt war er später Senior der ständigen Bürger-Repräsentation und starb 1841. Besser besoldet als er in Saarbrücken war sein jüngerer Bruder Karl Wilhelm (*18. März 1765 in Saarbrücken), der als nassau-saarbrückischer Forstmeister neben freier Kost und Logis, Uniform und Pferd noch 600 fl erhielt. Er starb 1823 als Schöffe und Senator in Frankfurt.“10
Die Regierungszeit des 1718 geborenen Wilhelm Heinrichs von Nassau-SaarbrückenWilhelm Heinrich, Fürst von Nassau-Saarbrücken erstreckt sich über die Jahre 1741 bis zu seinem Tod 1768. Der Fürst gehörte keineswegs zu den aufgeklärtenAufklärung Duodezfürsten dieser Zeit, sondern vertrat eher einen spätbarockenBarock AbsolutismusAbsolutismus. Als Kammerpräsident war von GünderrodeGünderrode, Friedrich Maximilian von der höchste Beamte dieses Fürsten.
Mit der Gattungsbezeichnung Kinderpastorale ist ein Schäferspiel für Kinder gemeint. Demnach hat WagnerWagner, Heinrich Leopold den Text für Kinder gedichtet. Erich SchmidtSchmidt, Erich vermutet, dass der Autor das Stück schon in seiner Zeit als Hauslehrer bei der Familie von Günderrode in Saarbrücken „im Spätsommer 1773“11 geschrieben hat. Im Oktober 1773 gründete Wagner eine wenig erfolgreiche Lesegesellschaft in Saarbrücken, es sollten vor allem literarische Neuerscheinungen gelesen werden. Seine Lesegesellschaft existierte gerade einmal ein halbes Jahr bis zum April 1774.
Der Hinweis am Ende des Textes der KinderpastoraleKinderpastorale in der unteren Fußzeile „Hierzu wird ein Blatt Musik ausgegeben“ bezieht sich auf die beiden Kompositionen Mögen doch am Himmel hangen trübe Wolken ohne Zahl und Möchte man nicht rasend werden Ach und Zeter schreyn , die auf der unpaginierten Seite 153 eingefügt sind. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Kompositionen, die erste bezieht sich auf die ersten beiden Strophen des Gedichts TrostTrost und ist mit „Melancholisch“ überschrieben und im BürgerfreundDer Bürgerfreund Jahrgang 1777, 10. Stück, S. 154 abgedruckt. Die zweite Liedkomposition vertont die erste Strophe des Gedichts Klagen eines Petit-maître, z.t. Stutzer, ZieraffeKlagen eines Petit-maître, z.t. Stutzer, Zieraffe – ( Der Bürgerfreund Jg. 1777, 10. St., S. 152), mit einer unwesentlichen Textumstellung und der Tempobezeichnung „Lustig“. Über den Komponisten ist nichts bekannt. Auch der Verfasser der beiden Gedichte ist unbekannt, sie sind aber gleichlautend jeweils mit der Verfasserangabe „der Kranke“ unterschrieben. Unmittelbar danach folgt auf der nächsten Seite WagnersWagner, Heinrich Leopold Kinderpastorale .
Die Adressierung der Kinderpastorale richtet sich an den „rechtschaffenen“ Vater, an dessen Geburtstag das Stückchen aufzuführen sei. Das Adjektiv bezieht sich auf die bürgerliche Tugendbürgerliche Tugend der Rechtschaffenheit und wird durch die Herausstellung besonders betont. Nicht irgendein Vater ist gemeint, sondern der rechtschaffene Vater. Rechtschaffenheit und Tugendhaftigkeit sind fast schon Synonyme in der Semantik bürgerlicher Selbstfindung. Nur drei Personen treten in diesem Dramolett auf, die Schäferin Dorilis und die Schäfer Milon und Daphnis. Die Namen leiten sich aus der griechischen Mythologie her. Dorilis ist ein codierter Figurenname aus der Schäferdichtung. Von LessingLessing, Gotthold Ephraim ist ein Gedicht überliefert, das er in der ersten Buchveröffentlichung seiner Sinngedichte von 1753 An die DorilisAn die Dorilis betitelte, in der zweiten Auflage von 1771 in An die CandidaAn die Candida umbenannte, und das zeitgenössisch oft nachgedruckt wurde:
„Dein Hündchen, Candida, ist zärtlich, tändelnd, rein:
Daß du es also leckst, soll das mich wundern? nein!
Allein dein Hündchen lecket dich:
Das wundert mich.“12
Möglicherweise hat Wagner hierauf angespielt, auch wenn es keine inhaltliche Nähe zur Kinderpastorale gibt. Allerdings vermag in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Gedicht die Opposition zwischen der Reinheit (sc. Rechtschaffenheit) des Hundes und der Unreinheit (sc. UnrechtschaffenheitLessing, Gotthold EphraimBriefe, die neueste Literatur betreffendAllgemeine deutsche BibliothekLettre du Comte de Mirabeau a *** sur M.M. de Cagliostro et LavaterMüller (Oberprediger)Cagliostro13, um das Adjektiv aus dem 106. von Lessings Briefen, die neueste Literatur betreffendBriefe, die neueste Literatur betreffend aufzugreifen) der Frau bzw. zwischen Mensch und Tier auch die Dichotomie von Mann und Frau als ein bürgerliches GenderstereotypGenderstereotypbürgerlich widerzuspiegeln und damit auf Wagners Herausstellung der väterlichen, männlichen Rechtschaffenheit zu verweisen. Ähnlich hypothetisch muss die Deutung von Milon ausfallen. Vielleicht ist die Verwendung dieses Namens eine Referenz gegenüber WagnersWagner, Heinrich Leopold Dichterfreund Maler MüllerMaler Müller und seiner Idylle Bacchidon und Milon, eine Idylle; nebst einem Gesang auf die Geburt des Bacchus. Von einem jungen MahlerBacchidon und Milon, eine Idylle (Frankfurt, Leipzig 1775). Daphnis, ebenfalls der griechischen Mythologie entnommen, ist ein Sohn des Hermes und Hirte auf Sizilien. Daphnis und ChloeDaphnis und Chloe , ein spätantiker Liebesroman von LongosLongos aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, hat Wagner wohl nicht im Blick gehabt, da dies ein für die Kinder eines rechtschaffenen Vaters ungebührliches Sujet dargestellt hätte. Der im Text genannte Musiker Lykas ist ebenfalls ein Namen aus dem Setting eines Schäferspiels. Auf welche historische Person aus Wagners Umfeld sich der Name aber beziehen könnte, ist nicht zu verifizieren.
Die beiden Kinder und Geschwister Dorilis und Milon bestreiten im Wesentlichen diese Dialogszene des ersten und zweiten Auftritts, aus der der kurze Text besteht. Dorilis ist gerade im Begriff, eine Blume vom Blumenstock zu pflücken, als Milon interveniert. Sie solle das lassen, es sei eine schöne Blume, die ihr gebrochen nichts nütze. Dorilis hält dem entgegen, dass gerade darin der Endzweck einer Blume liege, gepflückt zu werden. Schon in der Minnelyrik enthielt die poetische Ausdrucksform ‚eine Blume brechen‘ die Semantik codierter SexualitätSexualität. Das kann bei Wagners Endreimtext ausgeschlossen werden. Geblieben ist aber der implizite Appell zu einer symbolischen Deutungsymbolische Deutung, das bedeutet, dass zunächst einmal die Gewaltinskriptur erkannt werden muss, die der Akt des Brechens enthält. Der Text wirft die Frage nach dem Nutzen und nach dem Endzweck auf und liefert inkludent die Antwort mit, Nutzen und Endzweck werden nur erreicht, wenn ein bestehender Zustand (die Blüte am Wurzelstock) zuvor gewaltsam verändert wird. Nicht jede Veränderung beruht auf einem sanften Vorgang. Milon bringt als ein weiteres Kriterium nun die SchönheitSchönheit in den Dialog mit ein, genauer die Naturschönheit. Die Blume sei in voller Blüte und so schön, deshalb dürfe sie nicht gepflückt werden. Dorilis entgegnet, ihre Schönheit sei der Grund, weshalb sie gepflückt werden müsse. Schließlich versucht es der Bruder mit dem Hinweis auf die christliche TugendTugend der Güte. Die Schwester solle aus lauter Güte (und das meint aus lauter Mitgefühl) darauf verzichten, die Blume zu pflücken. Dieses Argument überzeugt sie, und sie lässt davon ab. Allerdings fordert sie ihren Bruder dadurch heraus, dass sie ihm darlegt, nur ein einziges Wort lasse ihn seine Meinung ändern, und fordert ihn zu einer Wette heraus. Der Wetteinsatz ist das Band an seinem Hirtenstab, das ihm viel bedeutet. Dorilis provoziert sein Ehrverständnis, und in dem Augenblick, als er erfährt, dass die Blume nicht für sie selbst bestimmt ist, sondern dem Vater zu dessen Geburtstag dargebracht werden soll, ändert Milon seine Meinung und pflückt selbst die Blume. Angesichts des heutigen Festes würde er sich wünschen, dass die Blume noch schöner wäre.
Читать дальше