Der einsame Ort, der nicht nur Locus amoenus der Schriftstellertopik ist, wird zum Ort der drohenden Vereinsamung. Auch in der Regieanweisung zu Beginn von Szene I/3 sitzt Lenz „an einem einsamen Ort ins Tal hinabsehend, seinen Hofmeister im Arm“ (S. 20). Die Isolation und die Differenz zu Goethe, das sich drohend abzeichnende Weimar-Trauma, inszeniert der Autor Lenz nochmals sehr deutlich in dem anschließenden Dialog der Eingangsszene. Goethe erblickt Lenz, er ist „mit einem Sprung […] bey ihm“ (S. 12). Die spontane Affektivität der Wiederbegegnung geht aber von Lenz aus. Die Frage Goethes, was Lenz denn hier mache, ist weniger Ausdruck der Freude, als vielmehr Erstaunen darüber, dass es Lenz gelungen ist, überhaupt so weit gekommen zu sein. Er beantwortet die Frage denn auch nicht, vielmehr beschwört Lenz noch einmal gestisch die Paaridentität. Er geht Goethe „entgegen“ (S. 12) und „drückt ihn ans Herz“ (S. 12). Der „Bruder Goethe“ (S. 12) aber reagiert auf die Nähe wie auf eine Bedrohung, die er sogleich abwehrt. Erst in II/5 wird er diese Anrede erwidern, indem er Lenz anspringt, ihn von hinten umarmt und ihn auch „Mein Bruder“ (S. 56) nennt. Allerdings erst, und das ist das eigentlich Dekuvrierende an dieser Textsequenz, nachdem Lenz den Segen KlopstockKlopstock, Friedrich Gottliebs erhalten hat. Jetzt, in der Eingangsszene, da sich Klopstock, die Vaterautorität der jungen Generation von Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang, noch nicht über Lenz geäußert hat, reagiert Goethe unwirsch: „Wo zum Henker bist du mir nachkommen?“ (S. 12) Lenz befindet sich auf einem Territorium, zu dem ihm kein Zugang erlaubt ist. Die nachfolgende Wechselrede zwischen Lenz und Goethe findet in I/2 eine nachträgliche Erklärung. Lenz soll, so berichtet dort einer der Nachahmer, „sich einmal verirrt haben ganzer drei Tage lang“ (S. 18). Ein Fremder fragt, wer denn der Lenz sei, darauf die Antwort: „Ein junges aufkeimendes Genie“ (S. 18). Noch führt die Verirrung nicht in die endgültige Isolation, noch ist Lenz in der Nähe Goethes und noch erfährt er den Respekt der wichtigsten Autoritäten, nämlich HerdersHerder, Johann Gottfried und Klopstocks. Analog zu dieser Sequenz in I/2 ist die Sequenz in I/1 aufgebaut. Goethe fragt, wo Lenz denn herkomme, aber LenzLenz, Jakob Michael Reinhold stellt diesmal hier die entscheidende Frage: „Wer bist du denn?“ (S. 12) Damit wird deutlich, dass das eigentliche Rätsel demnach nicht Lenz ist, sondern GoetheGoethe, Johann Wolfgang. Und Goethe ist derjenige, der die Auskunft über seine Identität verweigert („Weiß ich wo ich her bin“, S. 12). Diese Asymmetrie in der Freundschaftsbeziehung legt nun endgültig die Differenz zwischen den beiden Freunden frei. Wer sich zu erkennen gibt und sich öffnet, kann auch etwas verlieren; und wer sich verschließt, braucht den Verlust nicht zu fürchten.
Goethe infantilisiert den Freund, er nennt ihn ein „Bübgen“ (S. 12), so wird Lenz übrigens später auch von Herder tituliert (vgl. S. 54). Goethe positioniert damit die Machtanteile eindeutig nach patriarchalem Muster. Väterlich lobt er die Absicht von Lenz, nur „gut seyn“ (S. 12) zu wollen. Und dann fällt der vielsagende Satz: „Es ist mir als ob ich mich in dir bespiegelte.“ (S. 12) Das ist eine eindeutige narzisstische Figurierung, die sprachliche Inszenierung von Goethes Eigenliebe ist unübersehbar. Für ihn besteht die Funktion von Lenz lediglich darin, dass dieser ihn in seiner Selbstliebe bestärkt. Der Verfasser des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum , der Autor Lenz bringt damit die Instrumentalisierung zum Ausdruck, die er durch Goethe erfährt. Er reagiert im Traum darauf physisch, denn Lenz wird „roth“ (S. 12). Noch hat er Goethe „unter den Armen“ (S. 12), später ist es nur noch das eigene Werk, sein HofmeisterDer Hofmeister (vgl. S. 20). Und noch bedeutet Goethes Imperativ „Weiter!“ (S. 12), dass „beyde“ (S. 12) gemeinsam einer Anhöhe zugehen. Dieser Schlussdialog der Eingangsszene ist aus H 2vollständig getilgt. Der Auslöschung entgegengesetzt ist lediglich der Schlusssatz Goethes: „Bleiben wir zusammen“ (S. 13). Der Träumende legt den Wunsch mit seinem beschwörenden Unterton dem Freund in den Mund, von dem er längst ahnt, dass er auch hier die Identität des Gemeinten verwehrt.
Wie bewusst dem Autor Lenz die drohende Trennung von Goethe gewesen ist, wird in der vorletzten Szene des Stücks erkenntlich. In II/5 formuliert Goethe expressis verbis jenen Anspruch und reklamiert damit die Anerkennung für sich, die nach der Lesart des Autors Lenz selbst zusteht. Lenz lässt KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb, HerderHerder, Johann Gottfried und LessingLessing, Gotthold Ephraim unisono (!) über ihn sagen: „Der brave Junge. Leistet er nichts, so hat er doch groß geahndet“ (S. 56). Der im daktylischen Pentameter geschriebene zweite Satz spricht unmissverständlich dem Autor Lenz die größere literaturgeschichtliche Bedeutung zu. Das Autoritätstriumvirat der Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang ist die letzthin unabhängige Instanz, die das objektive Urteil über die Leistung des Dichters Lenz spricht. Goethes Einspruch hierauf wird in der pointierten Kürze vom Autor geradezu als Anmaßung herausgestellt. Der Bruch ist unabwendbar, Goethe sieht sich in der Linie einer konsequenten Fortschreibung des lenzschen Werks. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold sieht die Bedrohung, die Goethe für ihn bedeutet, während er für GoetheGoethe, Johann Wolfgang lediglich Medium der Selbstbespiegelung bleibt. Die Menge der hereinstürmenden jungen Leute, die denselben Anspruch erheben wie Goethe, potenziert die Bedrohung, die für Lenz aus dieser Situation resultiert.
Um Interferenzen und Referenzen ebenso wie die Eigenständigkeit und die Bedeutung des Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum erkennen zu können, muss man den Text in den Kontext genuiner Sturm-und-Drang-LiteratursatirenLiteratursatire einlesen.10 Wie bereits die Mikroanalyse der ersten Szene gezeigt hat, handelt es sich bei diesem Stück um einen Text der Selbstvergewisserung. Im Angriff auf die etablierten Literaten beschwört Lenz nochmals die Paaridentität zwischen ihm und Goethe. Auf das sonst andernorts oft beschworene Gruppengefühl wurde längst verzichtet. Dies mag gewissermaßen der psychische Unterbau der Beweggründe gewesen sein, die Lenz zur Niederschrift des Stücks veranlasst und auch noch zur Bearbeitung (in Gestalt der zweiten Handschrift) motiviert haben. Der unmittelbare Anlass hingegen ist mit Sicherheit in einer bösartigen Anspielung Friedrich NicolaisNicolai, Friedrich zu sehen. Dieser hatte in der im Januar 1775 veröffentlichten WertherDie Leiden des jungen Werthers -Parodie Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein GesprächFreuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch in dem Teil Leiden Werthers des Mannes geschrieben:
„’s war da ein junges Kerlchen, leicht und lüftig, hatt’ allerlei gelesen, schwätzte drob kreuz und quer, und plaudert’ viel, neust’ aufgebrachtermaßen, vom ersten Wurfe, von Volksliedern, und von historischen Schauspielen, zwanzig Jährchen lang, jed’s in drei Minuten zusammengedruckt, wie ein klein Teufelchen im Pandämonium. Schimpft’ auch alleweil’ auf’n BatteuxBatteux, Charles, Werther selbst konnt’s schier nicht besser. Sonst konnte der Fratz bei hundert Ellen nicht an Werthern reichen, hatte kein’ Grütz’ im Kopf und kein Mark in’n Beinen. Sprang ums Weibsen herum, fispelte hier, faselte da, streichelte dort, gabs Pfötchen, holt’n Fächer, schenkt’ ’n Büchschen, und so gesellt’ er sich auch zu Lotten“.11
LenzLenz, Jakob Michael Reinhold kannte mit Sicherheit diesen Text von NicolaiNicolai, Friedrich, über den Boie in einem Brief an Lenz vom 11. April 1776 bemerkt: „Wider N.[icolai] jetzt auch noch was zu sagen, da die Freuden längst vergessen sind, wäre ja zu spät“ (Lenz: WuBr, Bd. 3, S. 425). GoetheGoethe, Johann Wolfgang hatte diese Art von Wertheriade kurz und prägnant „das Berliner ppp Hundezeug“12 genannt. Lenz verstand die Anspielung in Nicolais Satire, er wusste, dass er selbst mit jenem „jungen Kerlche[n]“ gemeint war, das von Nicolai auch als „Geelschnabel“ und „Lecker“ tituliert wird.13 Bereits der Titel Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum referiert auf diese Textstelle aus Nicolais Satire.14 Wenn Lenz als „ein klein Teufelchen im Pandämonium“ von Nicolai bezeichnet wird, dann impliziert dies ein hohes Maß an Diffamierungswillen. Als Teufelchen hielte sich Lenz im Bereich aller Dämonen auf, wenn man so das Pandämonium versteht. Und damit wird jegliche literarische Eigenständigkeit, Originalität und Individualität des Dichters radikal infrage gestellt.
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