»Ich wollte noch so viel mit dir bereden, Raymund, lass uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass ich vor Sonnenuntergang bei Onkel Hieronymus sein muss.« Helena hakte sich bei ihm unter und schlenderte mit ihm über den Festplatz in Richtung Stadt.
»Das Leben auf dem Gut wird immer schwieriger; Mutter versucht zwar alles, um den schönen Schein zu wahren und das Schloss und das Dorf mittels der Erträge der Bauern gewinnbringend zu halten, aber diese Marianischen sind sich für nichts zu schade, um uns in Schwierigkeiten zu bringen. Karl hat erfahren, dass sie anonyme Briefe an das Hochstift und an den bayerischen Herzog schreiben, in denen sie uns der Häresie bezichtigen. Es werden allerlei Gerüchte gestreut und Unwahrheiten verbreitet, wir stünden mit dem Teufel im Bunde und würden alles Unglück anziehen. Das Vermächtnis von Caspar, das wir in Gedanken und Schriften bewahren, ist ihnen ein Dorn im Auge. Für sie sind wir Ketzer. Und nun versuchen sie, uns irgendeiner Tat zu bezichtigen, die unter die hohe Gerichtsbarkeit fällt.«
»Das wird ihnen schwerfallen. Ich würde sie ja aus dem Gut vertreiben. Sollen sie in irgendein katholisches Dorf umziehen und uns in Ruhe lassen. Vater hätte schon viel früher gegen sie vorgehen sollen! Er war viel zu gutmütig.«
»Vater hat das Evangelium gelebt, er hat die Bauern nie als Untertanen gesehen, sondern als Mitmenschen. Und das haben wir jetzt davon. Wohltaten erzeugen Rachegefühle.«
»Was wird unsere Mutter unternehmen?«, fragte Raymund.
»Ich habe einen Brief an Onkel Hieronymus dabei. Sie hofft wohl auf weitere Hilfe von ihm.« Eigentlich wollte Raymund Helena sein Herz ausschütten, aber es war viel tröstender, jemandem, den man so gern hatte, zuzuhören.
»He da, hereinspaziert! Wollt ihr beide nicht einmal in die Zukunft schauen? Marfisa liest euch für einen halben Kreuzer aus der Hand«, sagte eine tiefe, dunkle Frauenstimme und ließ die beiden innehalten. Unter einer Plane saß im Schneidersitz eine ältere Frau mit langen schwarzen Haaren und großen Ringen in den Ohren. Sie funkelte verführerisch mit den Augen. Helena zappelte aufgeregt.
»Komm, Raymund, das wollte ich schon immer einmal machen. Lass uns auf andere Gedanken kommen und einen Blick in die Zukunft werfen!«
Widerwillig ließ er sich von ihr unter die Plane ziehen. »Ich halte nichts von diesen Dingen; es geht doch immer nur um das Geld von leichtgläubigen Menschen. Dem Quacksalber vorher hast du nicht glauben wollen; jetzt lässt du dir von so einer Gauklerin aus der Hand lesen.«
»Ach bitte, bitte, Raymund, schau, ich hab hier auch schon einen Kreuzer für uns beide.«
»Nur nicht so zögerlich, junger Herr, setzt Euch ungeniert auf das Bänkchen, Bezahlung erfolgt im Voraus«, lud ihn Marfisa mit einem vielversprechenden Lächeln ein. Helena legte der Hellseherin die Münze in den Schoß, die sie sofort in einem kleinen Beutel an ihrem Gürtel verschwinden ließ. Raymund hasste Wahrsagerei, wollte Helena aber nicht enttäuschen. So ließ er es sich gefallen, dass Marfisa seine und Helenas Rechte nahm und unruhig zwischen den geöffneten Handflächen hin und her blickte. Lange Zeit sagte sie nichts, als wäre sie sprachlos von dem, was sie in den Händen las.
»Jetzt mach es nicht so spannend und sag schon, was die Zukunft für uns bereithält, oder fällt dir nichts dazu ein?«, unterbrach Raymund die unangenehme Stille. Er fühlte sich bestätigt, dass Handleser nur mit der Zukunftsangst der Leute Geschäfte machten.
Marfisa zögerte; anscheinend hatte sie irgendetwas gesehen, was sie sehr beunruhigte. Sie fuhr immer wieder mit ihren dünnen Fingern die Linien auf den Händen nach, schaute zuerst Helena, dann Raymund in die Augen, schüttelte den Kopf, verglich erneut die Hände und setzte endlich an zu sprechen: »Kind des Glücks und Kind der Sünde. So verschieden ihr auch in eurem Aussehen seid, eure Hände deuten etwas ganz anderes. So weit wie die Vergangenheit euch aus verschiedenen Richtungen zusammengeführt hat, so eng wird die Zukunft euer beider Leben vereinen. Doch stehen widrige Umstände bevor, die von allen große Geduld fordern werden. Ich sehe einen weißen Mönch und einen schillernden Mann, beide bereiten große Schmerzen. Was für die eine Hand sieben Monate, sind für die andere sieben Jahre. Die Macht des Propheten, die die eine Hand zerstören will, rettet sie; die Macht der Kirche, die die andere Hand verbrennen will, befreit sie.«
Raymund schüttelte den Kopf. Es gab für ihn keinen Sinn, und als Marfisa abschließend seine und Helenas Hand mit ihrer zu umschließen suchte, winkte er unwillig ab.
»Es hat mich viel Kraft gekostet«, versuchte sich die Hellseherin zu entschuldigen.
»Ich danke Euch, gute Frau. Ich werde Eure Worte stets bei mir tragen.« Helena stand auf und verabschiedete sich von Marfisa.
Raymund drehte sich um und ließ die Wahrsagerin grußlos zurück. »Ich habe genug gehört. Was für dummes Zeug. Kind des Glücks und Kind der Sünde, die Macht des Propheten und ein weißer Mönch! Was soll das denn alles bedeuten?«
»Vieles habe ich mir auch nicht erklären können. Das Schönste ist aber doch, dass wir beide eine gemeinsame Zukunft haben; das habe ich mir immer gewünscht. Ich liebe dich, mein Bruder, seit ich dich kenne, und so wie es aussieht, mein ganzes Leben lang.«
Raymund nahm seine Schwester in den Arm und küsste sie auf die Stirn.
Augsburg, zwei Tage nach Mariä Himmelfahrt 61578
Otto stand vor der Barfüßerkirche und wartete. Seit seiner dringenden Aufforderung an Hieronymus Rehlinger, Raymund so schnell wie möglich aus Leeder in die Stadt zu holen, war ein ganzes Jahr vergangen. Aber sie schien erfolgreich gewesen zu sein. Der Denklinger Pfarrer hatte ihm in einem Brief – neben den Schwierigkeiten mit den Schwenckfeldern in Leeder, den hohen Schulden auf dem Gut und der Rehlingertochter, die mit Krähen spricht – auch von dem Sohn geschrieben, den man nach Augsburg geschickt hatte. Es konnte nur Raymund gewesen sein. Aber wohin hatten sie ihn geschickt? Vorsichtig hatte er bei der städtischen Handwerkergilde nachgefragt. Otto war entsetzt, als man ihm mitteilte, dass Raymund Rehlinger als Büchsenmacherlehrling beim protestantischen Benzenauer eingetragen war. Diese Berufswahl hatte doch wenig mit den geistigen Fähigkeiten zu tun, die er glaubte, seinem Sohn vererbt zu haben. Er hatte sich Raymund als Studenten vorgestellt, vielleicht im katholischen Italien, jedenfalls weg aus dem protestantischen Leeder. Er sollte ein guter Mensch und Christ werden. Nach der Jugend bei den Schwenckfelderketzern arbeitete er nun in einer Waffenschmiede. Otto seufzte. Hatte er überhaupt das Recht, Erwartungen in diesen Menschen zu setzen, den er selbst seinem Schicksal und der Huld und Güte Gottes überlassen hatte? Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Raymund in Augsburg vor den Nachstellungen der Inquisition sicher war. Er lächelte, wenn er daran dachte, dass das von ihm angestrebte Rechtsgutachten aus Ingolstadt dem Kardinal eine Untersuchung in Leeder untersagt hatte, vorerst. Ach, Raymund … in zwei Wochen würde er fünfzehn werden. Auch wenn er sich ihm nie würde offenbaren können, verspürte er ein unbändiges Verlangen, seinen Sohn wenigstens zu sehen. Er war immer wieder durch das Lechviertel spaziert, in der Hoffnung, dass er ihm begegnen würde, hatte sogar daran gedacht, beim Benzenauer anzuklopfen, um missionarisch tätig zu werden. Doch immer wieder hatte er gezögert. Schließlich kam er auf die Idee, dass der Kirchgang eine günstige Gelegenheit wäre. Für Otto war selbstverständlich, dass die Benzenauersippe im Lechviertel zu den Barfüßern zur sonntäglichen Predigt ging.
Da stand er nun vor der protestantischen Kirche. Es schmerzte ihn zu sehen, wie viele Menschen sich von seiner katholischen Kirche abgewandt hatten. Es waren eben nicht nur die Gebildeten, sondern Menschen aus allen Schichten, darunter viele Handwerker. Allen, die hier einzogen in ihrem protestantischen Einheitsgrau, hätte er am liebsten zugerufen: Kommt zurück, ihr seid auf dem falschen Weg! Seine Augen musterten die Handwerkerfamilien, die an ihren bunten Zunftwappen leicht zu erkennen waren, eine nach der anderen. Letztlich schlossen sie die Tore. Otto blieb alleine vor der Kirche zurück. Raymund war nicht dabei gewesen.
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