»Ich entschuldige mich, Fräulein Hochwohlgeboren; es war keinesfalls meine Absicht, irgendetwas Schlechtes über Eure Familie zu verbreiten. Lasst mich Euch zum Zeichen meines guten Willens ein kleines Geschenk mitgeben, ein Wässerchen vom Feinsten«, sagte der Mann nun zuckersüß und hielt ihr ein kleines Glasfläschchen entgegen.
»Behaltet es für Eure Kunden; ich habe kein Vertrauen in Eure Medizin. Komm, Raymund, du wolltest mir doch so vieles zeigen.«
Dem Quacksalber blieb für wenige Augenblicke der Mund offen stehen.
Raymund ließ sich von Helena zurück in die Menge ziehen. »Wenn du mich nicht zurückgehalten hättest, wäre ich dem Angeber an die Gurgel gesprungen.«
»Das ist ja schön, dass du mich verteidigen willst, aber mit Gewalt ist diesem Menschen nicht beizukommen. Denk an die Worte der Schrift: Was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.«
»Du hast ja recht, Helena! Es tut mir leid, dass ich mich immer wieder reizen lasse.« Er nahm sie bei der Hand und sah in ihre funkelnden Augen. Es war das erste Mal, dass Mutter ihr erlaubt hatte, ihn in Augsburg zu besuchen, seitdem er beim Benzenauer seine Lehre begonnen hatte.
Sie wollte die Nacht bei Onkel Hieronymus verbringen und am nächsten Tag wieder zurück nach Leeder fahren.
»Ich habe bei Mutter lange genug gebettelt, bis ich die Erlaubnis zur Reise hatte.«
»Irgendwann musstest du mir ja das neue Kleid zeigen. Das steht dir ganz hervorragend.«
»Karl hat schon bei der Abfahrt in Leeder durch die Zähne gepfiffen, als er mir auf den Wagen half.«
»Das glaube ich dir gern. Der alte Schwerenöter!«
»Jetzt komm, erzähl mir alles.«
»Der Benzenauer ist kein schlechter Meister, er hat allen Gesellen und Lehrbuben während des Festes freigegeben. Das Problem ist, dass er unter der Fuchtel seines Obergesellen steht. Aber vielleicht bin ich beim nächsten Schießfest in zwei Jahren nicht mehr als Zuschauer dabei. Ich habe nämlich etwas entdeckt, was die Büchsen viel treffsicherer machen kann. Ich bräuchte jemanden, der mich das ausprobieren ließe! Beim Benzenauer ist das unmöglich. Onkel Hieronymus hat mich mit einem Goldschmied bekannt gemacht, David Altenstetter, ein Bruder von uns, bei dem könnte ich mir das vorstellen.«
»Es ist schön zu sehen, dass der Beruf dir liegt«, Helena griff ihm an den Oberarm und lächelte. »Vielleicht kannst du ja nach der Lehrzeit zu dem Goldschmied wechseln?«
»Ich weiß nicht, ob ich es so lange aushalte. Ich hätte so viele Ideen, aber dieser eifersüchtige Greisinger sitzt mir im Nacken und verhindert alles.«
»Jetzt denk nicht an diesen Obergsell, sondern lass uns das Schießfest genießen!«
»Die Schützen kommen von weit her, aus Frankreich, Italien und sogar aus Spanien, um ihre Waffen und den Umgang mit ihnen zu präsentieren. Die Sieger erhalten wertvolle Preise, aber noch wichtiger ist, dass man von heute auf morgen berühmt wird. Ich will es dem Greisinger zeigen und so schnell als möglich hier mitmachen!«
»Das wirst du, ich weiß es, Raymund«, dabei strahlte sie ihn an.
»Heute sind die Armbrustschützen dran. Sie ziehen mit einer großen Parade auf den Festplatz. Das dürfen wir auf keinen Fall verpassen.« Sie zogen an den Ständen vorbei, wo aus mächtigen Holzfässern Bier ausgeschenkt wurde, schlenderten um die Wurfbuden und die Felder, wo man Wettbewerbe im Steinewerfen und Laufen austrug.
»Schau, Helena, die Trompeter und Trommler stellen sich schon auf. Gleich beginnt die Parade.«
Auf einer Tribüne, von der aus man den ganzen Platz überblicken konnte, hatten Musikanten in bunten Gewändern angefangen, eine Fanfare zu spielen. Alle Blicke richteten sich auf den Eingang. Mit Hellebarden bewaffnete Landsknechte drängten die Menschenmasse dazu, eine Gasse zu öffnen. Die schweren Armbrüste auf den Schultern, mit der freien Hand in die Menge winkend, zogen die bunt gekleideten Männer unter dem Jubel der Zuschauer auf den Platz.
Raymund hatte für sich und Helena auf der unteren Stufe der Tribüne einen Platz gefunden, sodass sie das Geschehen etwas erhöht mitverfolgen konnten. Hinter den Armbrustschützen lief ein ganzer Tross Neugieriger, die versuchten, einen guten Standort zu ergattern, von den Ordnern aber am Zugang zur Schützenwiese unsanft gehindert wurden.
»Raymund, he! Hast du dort oben ein Plätzchen für mich?« Raymund suchte in der Menge nach dem Rufer, bis er den winkenden Jos entdeckte.
»Komm her, Jos, dich schmales Hemd bringen wir hier sicher noch unter.« Er packte den ausgestreckten Arm seines Freundes und zog ihn zu sich auf die Tribüne.
»Helena, das ist Jos, mein Freund und Mitlehrbub beim Benzenauer«, stellte er ihn vor.
»Ich wusste nicht, dass du so eine schöne Schwester hast, Raymund«, stammelte Jos und Helena lächelte verlegen. »Gestern hättest du da sein sollen; da haben die Franzosen mit ihren Pistoletten geschossen, da war so manche Fehlzündung dabei, was die Leute herzlich lachen ließ.«
»Haben sie denn getroffen?«
»Zu den aufgeständerten Hakenbüchsen ist noch ein großer Unterschied. Gewonnen hat auf die hundert Fuß ein Nürnberger. Den Namen hab ich schon wieder vergessen. Die Augsburger haben wieder nichts gemacht.«
Inzwischen hatten die Armbrustschützen Aufstellung genommen und jeweils zwei traten gegeneinander an. Der Sieger kam in die nächste Runde. Die Scheibenbuben liefen aufgeregt hin und her und streckten die Ergebnisse auf Tafeln in die Höhe. Der Jubel der Menge war jedes Mal groß, und bald gab es einen Favoriten, der bereits seine siebte Runde gewonnen hatte und unter frenetischem Beifall zum letzten Duell antrat.
»Kennt ihr beide den Langen?«, fragte Helena. »Dem drücke ich die Daumen und der wird wohl gewinnen.«
»Den kenn ich nicht, aber der wird es schwer haben, weil sein Gegner ist der alte Meichelböck aus den Stauden, der in den letzten Jahren immer gewonnen hat«, entgegnete Jos.
»Dann wird es Zeit, dass einmal ein anderer gewinnt, oder? Ich bin für den Jungen.«
»Gewinnen soll der Beste. Vielleicht ist es ja zum letzten Mal, denn die Armbrust ist früher oder später zum Aussterben verurteilt«, wandte Raymund ein. »Bis man sie aufgezogen und gespannt hat, ist die Beute entwischt und der Schütze selbst getroffen.« Jos lachte.
Die letzte Runde hatte begonnen. Obwohl er bisher immer mindestens neun oder zehn Ringe getroffen hatte, verzog dem Meichelböck ein leichter Windstoß den Pfeil, der gerade noch auf dem linken Rand der Scheibe einschlug. Die Scheibenbuben streckten eine Eins in die Höhe und sofort ging ein Raunen durch das Publikum. Der Meichelböck drehte sich laut fluchend und auf den Wind schimpfend ab.
Dann kam der lange Unbekannte an die Reihe. Siegessicher streckte er seine Waffe in die Höhe und drehte sich im Kreis allen Zuschauern zu. Eine Weile stand er ganz ruhig da, visierte das Ziel an und wartete auf einen windstillen Augenblick. Just in dem Moment, als er den Pfeil abschoss, wirbelte eine unberechenbare Bö über den Platz und wehte Hüte und Tücher davon. Auch der Pfeil flog zum Entsetzen der Zuschauer an der Scheibe vorbei in den Erdwall, der hinter den Zielen aufgeschüttet war. Die Fanfarenbläser traten in den Kreis und der Herold verkündete den Namen des Siegers. Simon Meichelböck wurde sofort von seinen Freunden aus den Stauden umringt und auf die Schultern gehoben.
»Na, da haben wir es ja wieder einmal gesehen. Diese Armbrüste haben keine Zukunft«, stellte Raymund fest.
»Schade, dass der Lange so ein Pech mit dem Wind hatte«, bemerkte Helena ein wenig ernüchtert.
»Ich lasse euch beide jetzt allein und gehe nach hinten in die Kegelhütte. Da geht es immer lustig her; nicht unbedingt etwas für junge Damen. Aber ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen werden.« Jos reichte Helena zum Abschied die Hand und verschwand in der Menge.
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