Theorien dienen also dazu, die Wirklichkeit, wie wir sie über unsere Sinneseindrücke (oder empirische Methoden als Hilfswerkzeuge) erfahren, vermittels Sprache abzubilden und dabei Aussagen über kausale Zusammenhänge zu treffen. Theorien müssen den Kriterien der Wissenschaftlichkeit und insbesondere der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit entsprechen, um verstehbar und auch überprüfbar zu sein.
Theorien sind damit auch Anleitung oder Grundlage eines Forschungsprozesses. Sie bündeln das Forschungsinteresse auf ein bestimmtes Phänomen, formulieren Analyseperspektiven und bieten darüber hinaus mit ihren Begriffen und Definitionen Hinweise dafür, wie einzelne Begriffe so übersetzt oder operationalisiert werden können, dass man sie in der Wirklichkeit messen kann. Die daraus abgeleitete empirische Untersuchung dient dann der Überprüfung der Gültigkeit oder des Wahrheitsgehaltes einer Theorie. Aus dieser Perspektive stehen am Anfang jeder Forschung Theorien, welche dann an die durch diese Theorien vorstrukturierte Empirie rückgebunden werden müssen. Zugleich werden Theorien gerade in den Sozialwissenschaften auf der Basis empirischer Beobachtungen formuliert, sodass so betrachtet Beobachtungen am Anfang der Erkenntnis stehen. Im Grunde handelt es sich bei wissenschaftlichem Arbeiten somit um einen zirkulären Prozess (
Abb. 2 Abb. 2: Theorie und Beobachtung (Quelle: eigene Darstellung).
), der Empirie (also die Beobachtung oder empirische Erfahrung) und Theorie (also die verallgemeinerten Annahmen über Zusammenhänge in der Empirie) verbindet.
Abb. 2: Theorie und Beobachtung (Quelle: eigene Darstellung).
Merkkasten 2: Funktionen von Theorien (vgl. Westle 2009, 51)
• Theorien beruhen auf Beobachtungen und lenken Beobachtung.
• Theorien bilden Ausschnitte der Wirklichkeit ab.
• Theorien formulieren Annahmen über kausale Zusammenhänge zwischen Ereignissen.
• Theorien entstehen in einem sozialen Prozess (Forschung). Sie werden zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext formuliert.
• Theorien sind so formuliert, dass sie überprüfbar und damit widerlegbar sind.
2.2 Bausteine wissenschaftlichen Arbeitens: einige Definitionen
Ein Problem bei der Verwendung von Sprache ist deren Präzision. Dies gilt auch und gerade für wissenschaftliches Arbeiten. Denn Kommunikation kann leicht scheitern, wenn wir uns nicht exakt ausdrücken. Dies liegt vor allem daran, dass in der Alltagssprache die verwendeten Elemente meist nicht genau definiert werden. Stattdessen verlassen wir uns darauf, dass unsere Gesprächspartner:innen im Großen und Ganzen dasselbe meinen, wenn sie dieselben Worte verwenden. So bewegen wir uns etwa in einer Dorfkneipe bei politischen Diskussionen auf der Ebene der Alltagssprache – und damit auch auf der Ebene subjektiver Politikbegriffe, die sehr unterschiedlich sein können (
Kap. 4.1
). Im wissenschaftlichen Kontext kommen wir mit diesen Begriffen nicht besonders weit, da sie meist unreflektiert und ohne genaue Festlegung ihrer Bedeutung verwendet werden. Will man jedoch die Wirklichkeit so genau wie möglich abbilden und die eigenen Aussagen verstehbar, nachvollziehbar und nicht zuletzt messbar machen, so sollte man sich Gedanken darüber machen, wie man verwendete Ausdrücke von der Alltagssprache in eine präzisere Sprache übersetzen kann.
Dabei können sprachwissenschaftliche Konzepte aus der Semantik (der Wissenschaft von der Bedeutung der Zeichen) hilfreich sein. In der Bedeutungstheorie wird bei sprachlichen Ausdrücken unterschieden zwischen der Intension (Bedeutung) und der Extension (dem Bezug oder Referenten).
Als Intension bezeichnet man den Sinn des Ausdrucks. Der Sinn oder die Bedeutung ist das, was man beim Verstehen des Ausdrucks erfasst. Wenn man den Ausdruck ›Staat‹ hört, so wird man damit eine Vorstellung verbinden, z. B. die Grenzen oder die Organisationsform eines Staates. Wenn der Ausdruck ›Demokratie‹ fällt, kann man z. B. Wahlen damit verbinden oder Meinungsfreiheit. Je genauer man selbst festlegt, was man unter einem Ausdruck versteht, desto exakter ist Kommunikation möglich.
Da Bedeutung und Bezug eines Ausdrucks nicht das Gleiche sind, unterscheidet man von der Intension die Extension. Damit ist der Gegenstand oder die Gruppe von Gegenständen gemeint, auf die sich ein Ausdruck bezieht, die der Ausdruck benennt. Verschiedene Wörter oder Ausdrücke können denselben Bezug haben, z. B. wäre Deutschland ein Referent für die Ausdrücke ›Staat‹ und ›Demokratie‹. Allerdings können zwei Ausdrücke nicht dieselbe Bedeutung und gleichzeitig einen verschiedenen Bezug haben. »Denn der Bezug ist eine Funktion der Bedeutung. Wenn die Bedeutung feststeht, dann ist auch der Bezug eindeutig bestimmt« (Føllesdal u. a. 1988, 217), da der entsprechende Referent die Bedeutungsinhalte aufweisen muss, die in der Intension formuliert sind. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Das heutige Belarus kann nicht eine Demokratie sein, wenn der Bedeutungsgehalt von ›Demokratie‹ freie, faire und gleiche Wahlen umfasst. Diese Beziehung lässt sich grafisch im sogenannten Ogden’schen Dreieck ausdrücken (
Abb. 3 Abb. 3: Odgen’sches Dreieck (Quelle: eigene Darstellung nach Føllesdal u. a. 1988, 217).
), das der englische Linguist Charles Kay Ogden formulierte (vgl. Ogden/Richards 1923).
Abb. 3: Odgen’sches Dreieck (Quelle: eigene Darstellung nach Føllesdal u. a. 1988, 217).
Solche in ihrer Intension festgelegten Ausdrücke nennt man auch Begriffe. Begriffe können definiert werden als »Denkeinheiten, deren zunächst subjektiver Charakter dadurch objektiviert, d. h. intersubjektiv vermittelbar gemacht werden kann, dass andere Individuen mit einer solchen Denkeinheit den gleichen Inhalt wissentlich verbinden« (Dreier 1997,117; vgl. Sartori 1975, 13; 1984, 27). Mit Dreier (1997, 130) können drei Typen wissenschaftlicher Begriffe identifiziert werden, die sich hinsichtlich ihres Informationsgehalts unterscheiden. 2
1. Klassifikatorische Begriffe (qualitative Begriffe) dienen der Erfassung von Unterschieden. Es werden Kriterien festgelegt, nach denen alle untersuchten Fälle in zwei oder mehrere Klassen eingeteilt werden können. Dabei müssen die Klassen begrifflich so definiert werden, dass sie wechselseitig ausschließlich und erschöpfend sind. D. h., ein Fall kann lediglich in eine Klasse fallen und alle Fälle können einer Klasse zugeordnet werden. Beim italienischen Politikwissenschaftler Giovanni Sartori heißt das dann »mutually exclusive« und »empirically exhaustive« und stellt eine zentrale Bewertungsgrundlage für Klassifikationssysteme dar. Ein Beispiel für eine Klassifikation von Elementen wäre die Unterscheidung von Besitzklassen in Arm und Reich oder von politischen Regimen in Demokratie und Diktatur.
2. Komparative Begriffe oder Ordnungsbegriffe setzen Eigenschaften von Fällen zueinander in Bezug. Sie ermöglichen damit eine feinere Unterscheidung und genauere Beschreibung. Die Vergleichsgrößen wären dann ärmer oder reicher in Bezug auf Besitz bzw. demokratischer und weniger demokratisch bei politischen Regimen. Dabei gilt, dass komparative Begriffe in einer strengen Ordnung zueinanderstehen. Dazu müssen die Bedingungen der Irreflexivität (ein Element kann nicht mit sich selbst in einer Relation stehen: Deutschland ist demokratischer als Deutschland), der Asymmetrie (Deutschland ist demokratischer als Kasachstan; damit ist ausgeschlossen, dass Kasachstan demokratischer ist als Deutschland) und der Transitivität (Deutschland ist demokratischer als die Türkei. Die Türkei ist demokratischer als Kasachstan; das bedeutet auch, dass Deutschland demokratischer ist als Kasachstan) erfüllt sein.
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