In den Mittagsstunden wird der Leutnant Barth, der zur Besatzung der Reichsdruckerei gehörte, überfallen und von der Ritterbrücke ins Wasser geworfen … Als darauf eine Patrouille der Reichswehr erschien, umringte sie die Menge und warf mehrere Soldaten ins Wasser … Von der Adalbertbrücke warf die Menge einen Offizier ins Wasser; der Offizier ertrank … Aus dem Landwehrkanal wurde die schwer verstümmelte Leiche eines Reichswehroffiziers gelandet … Am Kottbusser Tor wurden ein Offizier und ein Soldat ins Wasser geworfen …
Darüber philosophierte er noch eine Weile – was es bedeutete, dass die Menschen ihre Opfer ins Wasser warfen. Sie taten es, um ihnen die letzte Ehre zu nehmen. Katzen ertränkte man. Und nichts war schlimmer, als wenn ein Mensch als Wasserleiche endete. So aufgedunsen wie ein Tierkadaver. Wenn die Verwesung langsam einsetzte. Jerxheimer schüttelte sich.
Der Vormittag verging quälend langsam, und kein Kunde ließ sich blicken. Die Leute hatten heute anderes im Sinn, als sich neue Sachen zu kaufen. So beschloss er, sein Geschäft schon um 16 Uhr zu schließen und die gewonnene Zeit zu nutzen, ein paar Gänge zu erledigen. Es gab Leute, die vergaßen, ihre Kledasche abzuholen, wenn sie nach dem Kauf noch zu ändern war. Meistens waren die Hosen unten zu lang und oben zu weit. Bei einem gewissen Gustav Witzke aus der Langen Straße war es genau umgekehrt gewesen. Aber nicht nur deswegen war ihm der Mann in Erinnerung geblieben, sondern auch wegen seines Auftretens. Er hatte ihn ganz genau taxiert: Das war einer, der mit allen Wassern gewaschen war und bald nach oben kommen würde. Den hatte er sich als Kunden warm zu halten, und sicherlich würde es ihm Witzke dankbar anrechnen, wenn er ihm den geänderten Anzug persönlich nach Hause brachte.
Also packte er das gute Stück in eine Tüte und machte sich auf den Weg zum Schlesischen Bahnhof. Weit war es nicht. Er brauchte nur die Adalbertstraße hinaufzugehen, kurz rechts in die Köpenicker Straße abzubiegen, um dann links zur Schillingbrücke zu gelangen. Hinter der Spree begann die Andreasstraße, die dann gleich nach Unterquerung der Stadtbahn die Lange Straße kreuzte. Er wäre zwar gern mit dem Auto gefahren, doch er hatte keines mehr. Zu schlecht gingen die Geschäfte. Nun, es würde wieder aufwärts gehen, wenn die neue Regierung erst gekommen war.
Die Straßen waren frei von sämtlichen Militärs, doch überall standen die Leute zusammen und diskutierten leicht hysterisch. Reichswehrminister Noske sollte zurückgetreten sein, und auf Anordnung des Generals von Seeckt seien Admiral von Trotha und General von Lüttwitz festgenommen worden. Man erwäge die Bildung einer reinen Arbeiterregierung, unter Berücksichtigung der Gewerkschaften. Das fanden die einen gut, die anderen aber regten sich fürchterlich darüber auf.
»Das ist doch nur eine Minderheit, und deren Versuch, die Regierung an sich zu reißen, ist doch gerade am Widerstand des Volkes gescheitert.« Ein anderer schrie, dass man die radikale Gefahr ebenso abwehren müsse wie die reaktionäre. Gott, der Gerechte, dachte Jerxheimer, die Berliner sind so abgehärtet, dass sie bei jedem Straßengefecht die Ruhe bewahren, aber am Durchdrehen sind, wenn statt der Kugeln Gerüchte durch die Lüfte schwirren.
Mit diesen Gedanken kam er in die Lange Straße und suchte nach dem Haus mit der Nummer 88. Besonders anheimelnd war die Gegend nicht, und er beeilte sich, in den Hausflur zu treten. Der Stille Portier verriet ihm, dass die Witzkes im vierten Stock des Seitenflügels wohnten. Auch das noch. Jerxheimer hasste das Treppensteigen wegen seines beginnenden Asthmas und verfluchte seinen Einfall, Witzke den Anzug nach Hause zu bringen. Außerdem gab es über ihm erheblichen Lärm. Hoffentlich geriet er in keine Prügelei hinein. Als er näher kam, konnte er jedes Wort verstehen, das oben gesprochen wurde. Offenbar kam die Frau, die da redete, von der Sozialkommission.
»Ich sage Ihnen, Herr Wachtmeister, so kann das nicht weitergehen. Dieser Großmann ist ein Unhold. Die tollsten Dinge passieren hier in seiner Kochstube. Jede Menge Frauenzimmer von der Straße bringt er her. Und zumeist gibt es Lärm bei diesen Besuchen. Man hört Schreien und Stöhnen, auch lautes Weinen in der Wohnung. Eben jetzt hat dieser Mensch ein ganz junges Mädchen bei sich, das wimmert und schluchzt.«
Richard Jerxheimer war von Hause aus zu neugierig, um sich das entgehen zu lassen. Man musste immer etwas Spannendes haben, was man seinen Kunden erzählen konnte. So näherte er sich auf leisen Sohlen dem dritten Stock, wo die Frau vom Magistrat und der Polizeibeamte bei offener Wohnungstür verhandelten. Auf dem Türschild, das aus Messing gefertigt war, stand der Name M. ITZIG, und darunter auf einem angehefteten Zettel: Karl Großmann . Das musste also eine Art Untermieter sein, wahrscheinlich der, in dessen Kochstube groß verhandelt wurde.
Jerxheimer schaffte es, dort hineinzusehen, ohne dass sie ihn bemerkten. Im Bett lag ein halbes Kind, eine kleine, gänzlich verlumpte Herumtreiberin von vielleicht 15 Jahren. Hinten an der Kochmaschine lehnte ein auffallend hässlicher Mann von vielleicht 60 Jahren.
Der Beamte fragte das Mädchen, was ihm fehle. »Hat dir der Herr Großmann etwas zuleide getan?«
»Er hat mir zwischen die Beine gefasst und wollte mir dann …«
»Da sehen Sie es!«, rief die Frau von der Sozialkommission.
»Der Mann gehört hinter Gitter, aber sofort.«
Karl Großmann fuhr auf. »Is det nun die Dankbarkeit, die ein Mensch kann erwarten, wenn er anderen helfen tut, wenn se in der Gosse liegen! Uff der Straße hab’ ick die Suse jefunden, und halb verhungert is se jewesen. Da bin ick jekommen und hab’ se satt gemacht, det Meechen. Keina hat sich jekümmert um sie. Nie hab’ ick dran jedacht, ihr Böset zu tun, aba jewaschen hat sie werden jemusst, so wie sie bei mir oben jekommen is. Wo se hat so ville Angst vor’t Wasser, da hab’ ick se selba waschen jemusst. Eina muss det ja ma tun. Nicht Sie vom Amt – wo sind Se denn jewesen die ganze Zeit üba? Und wat hat se uff’m Leib jehabt? Lumpen hat se uff’m Leib jehabt. Da liegen se noch. Möchten Se vielleicht in solche Lumpen rumlaufen? Welcha Mensch möchte det schon. Kleida machen Leute, wissen Se doch, Se sind doch beidet jebildete Menschen. Ick kenne doch die Menschen, kommen doch alle bei mir und koofen wat. Der Direktor will ’ne Wurst, der Bettler will ’ne Wurst. Der eene hat ’n jroßes Portemonnaie, der andre holt die Jroschen aus’m Hut, aba Menschen sind se alle. Und alle Menschen ham Hunger, auch die Suse hier. Und alle Menschen müssen Kleidung ham, sonst erfrieren se. Jetzt in März is et ja noch bitterkalt draußen. Da hab’ ick die Kleider von meine verstorbene Frau aus’m Schrank jeholt und se jeschenkt der Suse hier. Und wegen die Sache werd ich nun behandelt wie ’n Verbrecher! Da möchte man ja vor Wut die Wände hochgehen. Aber so isset nu mal: Undank ist der Welt Lohn.«
Die Frau von der Sozialkommission trat jetzt an das Bett und lächelte der 15-Jährigen aufmunternd zu. »So, du stehst jetzt mal auf …«
Jetzt sah man, dass das Mädchen Kleider trug, die einer großen und ziemlich fülligen Frau gehört haben mussten. Sie schlotterten nur so um den elenden Kinderkörper und fielen weit über die Füße auf den rotbraun gestrichenen Boden. Suse starrte auf ihre hervorlugenden Zehenspitzen. »Darf ich die Sachen trotzdem behalten?«
»Ja, und du kommst jetzt mit zur Jugendfürsorge, wo man sich um dich kümmern wird.« Dann wandte sie sich an den Polizisten. »Und Sie nehmen bitte den Großmann mit.«
»Warum denn das?«
»Weil er gar nicht verheiratet war. Die Kleider, die da in der Ecke liegen, müssen also auf andere Art und Weise hergekommen sein. Wie, das überlasse ich Ihrer beruflichen Phantasie.« Der Polizist machte eine abwehrende Geste. »Ich kann doch nicht so einfach einen unbescholtenen Bürger …«
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