Und nun habe ich das Gefühl, dass da was nicht stimmt! Da ist es wieder, das komische Gefühl. Aber es fühlt sich weder feucht noch warm an. Eher wie ein Kitzeln oder ein Vibrieren. Sicherheitshalber beuge ich mich nach vorn, um doch mal meine Hose zu kontrollieren, bevor ich mich zum Gespött der Rennstrecke mache.
Jetzt, wo ich kopfüber so dastehe und sicher reichlich albern aussehe, höre ich auch noch Geräusche. Nichts Unharmonisches oder gar Erschreckendes. Eher eine Melodie wie der Klingelton meines Handys.
Okay! Jetzt hab ich das Gefühl, mich reichlich albern verhalten zu haben. Erst deute ich den Vibrationsalarm von meinem Telefon als Inkontinenz und dann halte ich den Klingelton für Stimmen aus dem Jenseits.
Jetzt aber erst mal schnell das moderne Telekommunikationsgerät aus der Hosentasche, es macht sich ja schon ne Weile bemerkbar. Im Display sehe ich, dass es mein Kollege Timo ist. Ausgerechnet Timo, der doch weiß, dass ich das Wochenende mit Maik auf der Kartrennstrecke im hessischen Schaafheim bin.
Unfreundlich begrüße ich den jungen Polizisten: „Mensch Timo, du weißt doch, dass ich an der Strecke bin und Maik ist gerade am Fahren.“
„Klar weiß ich das“, entgegnet er mir, „aber was ich dir zu sagen habe, ist äußerst wichtig und duldet leider keinen Aufschub.“
„Na toll!“, fällt mir da nur ein. „Ist auf der Dienststelle die Toilette verstopft? Oder habt ihr keinen Kaffee mehr? Ihr solltet doch auch mal einen Tag ohne mich zurechtkommen.“ Jetzt, wo ich Dampf abgelassen hab, überlasse ich Timo das Wort.
„Bei deinem Freund Mayer wurde eine Leiche gefunden.“
„Wie – beim Gusti? Wie? Wo?“
„Wie? Mausetot natürlich. Und wo? Im Zentrallager in Hauenstein in der Industriestraße …“
„Die Adresse weiß ich, Timo!“ Hält der mich denn für blöd? „Ich kümmere mich hier um alles und melde mich so schnell es geht bei dir. Fahr bitte gleich hin und pass auf, dass keiner Scheiße baut. Vor allem, dass der Spurensicherung nichts durch die Lappen geht. Tschüss.“
Schon hab ich aufgelegt. Genau im richtigen Moment, denn schon kommt Maik mit seinem waidwunden Kart die Boxengasse entlanggerollt. Schnell renn ich den Hang hinunter zu meinem Sohn.
„Was ist passiert?“, will ich wissen.
„Sag mal, Baba, hast du Tomaten auf den Augen?“ Es muss wohl mein entgeisterter Blick sein, der ihn zum Weitersprechen bringt. „Nachdem ich den Start verpennt hatte, bin ich auf Angriff gefahren und konnte in der ersten Runde gleich wieder einen Platz gutmachen. Beim Angriff auf den Nächsten hat der mich, als ich auf gleicher Höhe war, abgedrängt und mich in die Reifen geschickt. Wie sieht es aus? Kann ich weiterfahren? Du weißt, dass ich erst ab der siebten Runde gewertet werde und wir sind gerade mal in der dritten.“
Langsam bekomm ich die ganzen Informationen der letzten Minuten auf die Reihe und beginne, den Schaden am Rennfahrzeug meines Sohnes zu begutachten. Und der ist leider verheerend.
„Vergiss es. Deine Heckstoßstange ist zur Hälfte abgerissen, dein rechtes Hinterrad ist aufgeschlitzt und dein Radstern ist so weit nach innen verschoben, dass der Reifen am Tank schleift. Das heißt, wir können zusammenpacken. Das schaffen wir auch zum zweiten Lauf in einer Stunde nicht.“
Enttäuscht steigt Maik aus und knallt seine Handschuhe und seinen vorgeschriebenen Rippenschutz in den Sitz. Während er den Schaden an seinem Kart begutachtet, klingelt erneut mein Handy. Dieses Mal ist es mein Freund Gustav.
„Hallo, Gusti!“ Zum Weiterreden komm ich gar nicht.
„Dieter, du musst kommen. Bei uns im Lager liegt ein Toter. Ich fahr auch schon hin. Ich weiß ja gar nicht, was ich tun soll. Kommst du, Dieter? Wo steckst du?“ So aufgelöst hab ich meinen Freund ja noch nie erlebt.
„Ich bin noch mit deinem Schützling in Schaafheim auf der Kartstrecke, aber mein Kollege ist auf dem Weg zu dir. Er heißt Timo Gebauer und kümmert sich um alles, bis ich da bin.“
„Okay“, höre ich aus meinem Handy, „aber komm bitte so schnell du kannst, Dieter.“
„Klar mach ich das“, und mit diesen Worten ist das Gespräch beendet.
Obwohl Maik sehr niedergeschlagen ist, hilft er mir tatkräftig. Zwei Tage lang hat er im Schweiße seines Angesichts Runde für Runde gekämpft, die Abstimmung seines Renngerätes verbessert. Nun steht er mit leeren Händen da.
Und doch schaffen wir es innerhalb einer Stunde, unser Fahrerlager abzubauen und alles zu verpacken. Das Wohnmobil haben wir schon am Morgen reisefertig gemacht, damit wir am Abend nicht zu viel zu tun haben. Aus Erfahrung wissen wir nämlich, dass wir am Ende eines Renntages so erledigt sind, dass wir uns über alles freuen, was wir nicht mehr tun müssen.
Auf der Rückfahrt habe ich nun Zeit, mir ein paar Gedanken zu machen. Auch über Gusti. Er betreibt die Firma Schuhqualität in zweiter Generation, die sich im Laufe der Jahre zu einer ansehnlichen Kette entwickelt hat. Es sollten inzwischen so um die zwanzig Verkaufshäuser sein, die Gusti betreibt. Selbst in Belgien und Luxemburg. Des Weiteren hat Gusti noch eine kleine, aber feine Skateboardmanufaktur, in der in Handarbeit edle Skateboards entstehen. Und genau der Name dieser Firma ziert auch das Renngerät meines Sohnes, weshalb ich Maik auch gerne als seinen Schützling bezeichne.
Wie doch die Zeit vergeht, wenn man in Gedanken versunken ist. Beinahe hätte ich die Abfahrt Landau Süd verpasst. Hier verlasse ich die Autobahn 65, die Ludwigshafen oder besser gesagt die Metropolregion Rhein-Neckar in einem Bogen durch die Südpfalz mit dem badischen Karlsruhe verbindet. Mein Weg führt mich über die B38, vorbei am Segelflugplatz auf dem Ebenberg, in die Stadt Landau. Noch vor dem Bahnübergang in Höhe des Vinzentiuskrankenhauses biege ich links ab, um über die L509 Landau in Richtung Wollmesheim zu verlassen.
Beim Ortsschild, aufgestellt in Höhe einer Großbäckerei, kann ich vor mir das Panorama des Wasgaus sehen. Eigentlich ein unscheinbares Mittelgebirge im Südwesten Deutschlands, aber durch seine Ruinen und Felslandschaften unverwechselbar schön. Auch die Madenburg ist schon deutlich zu sehen. Der Anblick der auf 458 Meter Höhe liegenden Burgruine dient mir stets als Orientierungspunkt, da am Fuße der Burg die B48 zwischen den Bergen verschwindet. Genau da muss ich hin. Dort liegt das verschlafene Dörfchen Waldrohrbach, in dem ich mit meiner Familie lebe.
Fünfzehn Minuten nachdem wir die Stadtgrenzen von Landau verlassen haben, parke ich das Wohnmobil mit Maiks Rennanhänger im Hof unseres alten Bauernhäuschens. Kaum habe ich den Motor abgestellt, sehe ich Natalie, meine Frau, aufgeregt aus der Haustür kommen. „Was ist passiert? Warum seid ihr schon zurück? Ist was mit Maik?“ Bei diesen Worten meiner Frau fällt mir ein, dass ich vor lauter Gedanken an Gusti und den auf mich zukommenden Fall total vergessen habe, sie über den Rennverlauf zu informieren. Klar, dass unsere viel zu frühe Ankunft sie in Angst und Schrecken versetzt.
„Mach dir keine Gedanken, Natsch“, versuche ich sie zu beruhigen. „Maik sitzt im Wohnmobil und wird dir alles vom Rennen erzählen. Nur ich muss leider gleich wieder los. Es gibt eine Leiche.“
Während ich in meinen Dienstwagen steige, sehe ich, dass meine Frau immer noch mit offenem Mund auf der gleichen Stelle steht. In der Gewissheit, dass Maik sie schon aufklären wird, fahre ich hastig vom Hof. Statt meiner Frau ist in meinem Rückspiegel nur noch eine Staubwolke zu erkennen.
DER TOTE ZWISCHEN SCHUHEN
Kurz darauf biege ich in die Industriestraße in Hauenstein ein. Jetzt heißt es, Geduld zu bewahren. Überall sind Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Kennzeichen bemüht, einen Parkplatz zu finden. Auf den Gehsteigen sind Menschenmassen mit Tüten bepackt unterwegs. Ja, die Industriestraße ist unter dem Namen „Schuhmeile“ weit über die Grenzen Hauensteins bekannt. Ein Gesetz, bei dem es um in alter Tradition hergestellte Ware geht, erlaubt den ansässigen Händlern, ihre Schuhe auch sonntags zu verkaufen.
Читать дальше