„Ja, aber du warst so empfindsam und schlau genug, um es zuzulassen. Du hast ihm das Gefühl gegeben, dass euer Leben, so wie es gewesen ist, vollkommen in Ordnung war.“
„Ansonsten hätte ich ihn verloren. Alles andere wäre auch äußerst unfair von mir gewesen, denn er hat mich nie angelogen. Ich wusste, wie wichtig ihm sein Beruf war, und trotzdem hat er es immer geschafft, dass wir drei das Gefühl hatten, unglaublich wichtig für ihn zu sein.“
„Das seid ihr auch gewesen, Elena – da bin ich mir absolut sicher.“
Wie gerne hätte Elena Belinda von Manuels abendlichen Besuchen erzählt, aber sie hatte zu große Angst davor, von ihr für verrückt erklärt zu werden. Was hätte sie denn selbst gedacht, wenn jemand von den Besuchen eines Toten erzählt hätte?
Irgendwann – es kam Elena wie eine Ewigkeit vor – hatte sich dann auch der letzte Gast verabschiedet und sie durfte nach Hause gehen. Belinda wollte noch vorbeikommen, nachdem sie Renate und Ludwig heimgebracht hatte. Auch ihre Familie und Irina boten sich an, sie nach Hause zu begleiten und noch bei ihnen zu bleiben.
„Kommt doch noch mit zu uns“, bot Julia herzlich an.
Elena lehnte alle lieb gemeinten Angebote ab. „Ich bin sehr erschöpft. Ich werde den Kindern noch aus dem Buch vorlesen, anschließend eine von Belindas kleinen Wunderpillen einnehmen und dann werde ich schlafen – tief und fest schlafen. Und vor allem werde ich nichts mehr denken müssen. Das ist es, was ich mir jetzt am meisten wünsche. Ich muss das Karussell, da oben in meinem Kopf, irgendwie wieder zum Stehen bringen. Zumindest muss ich es schaffen, es etwas zu entschleunigen. Seid mir bitte nicht böse. Ich möchte nicht undankbar wirken. Ich weiß eure Fürsorge wirklich sehr zu schätzen. Ich weiß auch, dass es nicht selbstverständlich ist, in so extrem schwierigen Zeiten derartig liebe und besorgte Menschen an seiner Seite zu haben. Bitte, bitte seid mir nicht böse.“
Alle reagierten sehr verständnisvoll und Elena hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie gelogen hatte. Sie konnte es schlicht und einfach kaum abwarten, wieder auf dem Sofa zu sitzen und auf die Terrassentür zu starren.
Zu Hause angekommen, überlegte sie gemeinsam mit den Kindern, was sie essen sollten. Sie einigten sich auf Wurst- und Käsebrote. Beim Essen erzählten die Kinder ganz gelöst und voller Gottvertrauen, dass es Papa ganz bestimmt gut gehe und er immer – Tag und Nacht – bei ihnen sei. Sie könnten ihn eben nur nicht sehen. „Er wird für immer unser unsichtbarer Schutzengel sein, der auf uns ganz prima aufpassen wird“, sagte Selina mit einem zufriedenen Lächeln.
Es kullerten schon wieder Tränen über Elenas Wangen, obwohl sie so tapfer sein wollte – zumindest für die Kinder. Verdammt, ich lasse mich so gehen!
„Soll ich euch noch aus dem Buch vorlesen?“
„Ja, Mami, dann bist du bestimmt auch nicht mehr so traurig. Oma hat nicht recht – nur seine Hülle liegt in der Kiste. Aber die braucht er nicht mehr, weil er ein unsichtbarer Engel ist, Mami.“
Selina war so süß. Sie schaute gerade genauso angestrengt und konzentriert, wie Manuel Elena immer angeschaut hatte, wenn er versuchte, ihr etwas Kompliziertes aus seinem Forschungsauftrag zu erklären. Meist hatte sie nicht allzu viel von dem verstanden, was Manuel ihr erklärt hatte – so wie sie auch jetzt Selinas Erklärungen nicht verinnerlichen konnte. Engel … Wie gerne würde sie ebenfalls ganz naiv und kindlich an Engel glauben. Aber sie konnte es nicht. Sie war viel zu realistisch. Sie glaubte nur das, was sie mit ihren eigenen Augen sah. Ich mag auch keine Fantasiefilme oder unrealistische Bücher. Eigentlich hasse ich sie richtig , dachte Elena. Und doch warte ich nachher sehnsüchtig auf einen Geist! Das ist doch verrückt oder nicht?
Das Kuscheln und Vorlesen tat den Kindern gut. Elena hatte wieder Angst vor schwierigen Fragen, aber das Buch war wirklich so wunderbar geschrieben, dass quasi keine Frage offen blieb. In Gedanken bedankte sie sich bei Julia. Diese Hilfe hätte sie sich wirklich sofort holen müssen. Die Kinder waren so selig und zufrieden mit den gefühlvollen Erklärungen. Ihre kleinen Kinderseelen waren beruhigt und sie schliefen mit dem Gedanken, dass ihr Papi auch bei ihnen ist, ein.
„Gute Nacht, Papi“, sagte Lois.
„Gute Nacht, Papi, und schnarch nicht so“, kicherte Selina. „Ich habe dich so lieb!“
Elena kam sich komplett verrückt vor, aber sie tat es doch. Sie zog ein schickes Kleid an und schminkte sich sorgfältig, bevor sie sich auf das Sofa setzte. „Du bist ganz eindeutig dabei durchzudrehen, Elena Schrader!“ Sie fokussierte die große Palme auf der Terrasse und beobachtete die leichten schwingenden Bewegungen der großen Blätter. „Das ist real – ich sehe die Palme. Ich sehe das Glockenspiel, das von der Terrassenüberdachung hängt. Ich sehe die wunderschöne, exklusive, sündhaft teure Stehlampe, die Manuel für mich gekauft hat, weil sie mir so wahnsinnig gut gefallen hat. Und ich sehe ganz klar und deutlich den Heizstrahler, den wir vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam ausgesucht haben.“ Alle Gegenstände standen ganz real da – mit hundertprozentiger Sicherheit. Und dann trat Manuel in dieses friedliche Bild. Auch er war da – er war keine Einbildung, kein Hirngespinst. Er stand so klar und deutlich da, wie auch die Palme, das Glockenspiel, die Stehlampe und der Heizstrahler ganz eindeutig zu sehen waren. Manuel lächelte und winkte ganz zaghaft – die Bewegungen sahen fast wie in Zeitlupe aus. Er hatte die Schildkappe nicht mehr auf und Elena dachte daran, wie oft sie durch dieses volle, wunderbar weiche, immer gepflegte und gut riechende Haar gestreichelt oder ihr Gesicht darin verborgen hatte. Sie hatte es immer mit viel Liebe, Intensität und Dankbarkeit getan. Sie hatte solche Momente aufgesogen, so bewusst genossen, als ob sie es geahnt hätte, dass ihnen nicht viel Zeit bleiben würde. Ja, heute bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, es unterschwellig dauerhaft gespürt zu haben, dass unsere überglückliche Beziehung nur sehr kurz andauern würde. Dieses ungute Gefühl hat mich konstant begleitet, auch wenn es mir meistens ganz gut gelungen ist, diese Ahnung immer wieder und wieder erfolgreich zu verdrängen. Wieso habe ich so empfunden?
Elena fixierte Manuel so intensiv, dass sie sich nicht einmal erlaubte zu blinzeln. Keinen Bruchteil, auch nicht den einer Sekunde, wollte sie von diesem Anblick verschwenden. Aber wie immer hob Manuel dann irgendwann die Hand, schickte ihr einen Kuss und gab das befürchtete Zeichen, sitzen zu bleiben. Dann verschwand er, den Blick auf sie gerichtet, ganz langsam wieder von der Bildfläche. Als er weg war, wich die ganze Anspannung aus ihrem Körper. Elena sackte in sich zusammen und weinte herzzerreißend. Was passiert hier? Werde ich verrückt? Das kann doch nicht sein, dass ich Manuel so klar und deutlich sehe. Egal , dachte Elena, Hauptsache, er kommt wieder – morgen und übermorgen und nächste Woche. Dann bin ich halt verrückt oder es gibt eben doch Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir Menschen nichts wissen – Geister eben , stellte Elena für sich selbst fest. Voller Überzeugung sagte sie laut: „Ein Geist ist mir lieber, als gar keinen Manuel mehr zu haben!“
Am Morgen nach der Beerdigung klingelte es an der Haustür, was Elena aus ihren Gedanken riss. Vor der Tür standen wieder die Beamten, die Manuels Fall bearbeiteten. „Dürfen wir bitte einen Moment hereinkommen? Wir hätten da noch ein paar Fragen.“
Elena musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Manuel ihrer Meinung nach umgebracht wurde. Irgendjemand sollte seinem Leben ganz gezielt ein Ende gesetzt haben. Diese Tatsache hatte sie bisher immer wieder verdrängt. Sie glaubte immer noch an einen groben Ermittlungsfehler. Wer sollte Manuel schon umbringen wollen? Dieser Gedanke kam ihr so abwegig vor, dass sie ihn nicht zulassen wollte. Innerlich sträubte sich alles in ihr, über diese Möglichkeit nachzudenken. Wenn sich doch Gedanken über diese Variante seines Todes aufdrängten, verbot sie sich, weiter darüber nachzudenken.
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