„Mami, Mami!“ Selina zog heftig an Elenas Hand. Sie musste wohl schon länger versucht haben, mit ihr zu sprechen.
Julia bückte sich zu Selina und fragte leise: „Mäuschen, was ist?“
„Warum redest du denn nicht mit mir?“
„Ich rede doch mit dir, mein Schatz.“
„Du hast gesagt, dass Papi im Himmel ist.“
„Ja, das ist er auch.“
„Aber Oma hat gesagt, dass er in der Kiste liegt. Dann kann er ja auch wieder herauskommen.“
„Ja, sein Körper ist tatsächlich in dem Sarg, aber –“, weiter kam Elena nicht.
„Hol Papi raus!“, schrie Lois plötzlich so laut, dass alle erschrocken in ihre Richtung schauten. In dem Moment fingen die Friedhofsangestellten an, den Sarg in das Grab herabzulassen.
Selina riss sich los, rannte zu einem der Männer und zog an seinem Mantel. „Aufhören, nicht in das Loch tun. Mach die Kiste auf. Mein Papa möchte wieder raus. Ich will ihn wiederhaben.“
Lois rannte zu seiner Schwester und schrie: „Papa ist nicht im Himmel. Papi ist in der Kiste!“
Alle waren von der Szene so erschüttert, dass es einen ganzen Moment dauerte, bis endlich jemand in der Lage war, zu reagieren. Julia schaffte es als Erste, zu den beiden zu laufen und sie schützend in den Arm zu nehmen. Sie flüsterte ihnen etwas ins Ohr, zog sie vom Grab weg und ging dann mit ihnen langsam in Richtung Friedhofsausgang. Julias Töchter, Sarah und Doreen, folgten den dreien weinend und schweigsam.
Elena sah ihnen hinterher und wäre am liebsten ebenfalls auf der Stelle gegangen. Aber trotz des Nebels in ihrem Kopf realisierte sie, dass sie diesem Drang nicht nachgeben durfte. Der Anstand erlaubte es nicht – sie musste durchhalten und sich vor allen Anwesenden anständig von Manuel verabschieden. Innerlich sehnte sie sich aber so sehr nach dem Moment, in dem sie endlich wieder auf ihrem Sofa sitzen und auf die Terrassentür starren konnte, um auf Manuel zu warten.
Plötzlich erreichte die eben geschehene Szene ihr Bewusstsein. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass ihre Kinder unfassbar litten und sie nicht in der Lage war, etwas dagegen zu tun. Sie lebte nur noch für den Augenblick, Manuel wiederzusehen. Sie war eine schlechte und egoistische Mutter. Dieser Gedanke tat so weh, dass sie laut aufschluchzen musste.
Jens, der gerade vor dem Grab Abschied genommen hatte, ging spontan zu Elena und umarmte sie. Dankbar lehnte Elena ihren Kopf an seine Schulter und blieb für eine Weile so stehen. Als sie den Kopf hob und versuchte, etwas durch den Tränenschleier zu erkennen, sah sie direkt in Renates Gesicht, die sie hasserfüllt anstarrte. Da wurde Elena bewusst, dass sie sich in den Augen ihrer Schwiegermutter an einen Mordverdächtigen gelehnt hatte. Auch Jens, der Elenas Blick gefolgt war, begriff sofort, dass diese Szene für Ärger sorgen würde. Er machte einen ruckartigen Schritt weg von Elena, was sie fast zu Fall gebracht hätte.
Irgendwann war es geschafft – alle Trauergäste hatten von Manuel Abschied genommen. Bis auf Elena, Belinda und die Schwiegereltern hatten sich alle vom Grab entfernt. Da zischte Renate: „Ich wusste es doch, dass sie mit dem noch was hat. Die hat es doch die ganze Zeit weiter mit dem getrieben. Bestimmt war sie froh, dass Manuel so viel und lange gearbeitet hat. So konnte sie den Versager wenigstens oft heimlich treffen und in Ruhe ihren Spaß mit ihm haben. Die war doch nur hinter Manuels Geld her. Ins gemachte Nest wollte sie sich setzen. Das haben die beiden Proleten doch von Anfang an so geplant. Umgebracht haben sie ihn. Aber das mit dem Erbe wird nichts – dafür sorge ich. Das schwöre ich hier am Grab meines Sohnes. Für die Kinder werden wir sorgen, vorausgesetzt der von uns angestrebte Vaterschaftstest beweist, dass die beiden überhaupt Manuels Kinder sind.“
Belinda nahm Renates Hand und streichelte sie. „Renate, sag doch so etwas nicht. Du bist gerade sehr aufgewühlt. Elena hat Manuel sehr geliebt – das kann ich mit absoluter Sicherheit behaupten. Und du weißt es auch.“
„Du musst diese Hure nicht in Schutz nehmen. Die Polizei wird schon Beweise finden. Dafür sorge ich höchstpersönlich. Hast du diese Blicke nicht gesehen, wie die sich angeschaut haben? Ich bin alt, aber nicht blind und schon gar nicht blöd!“
Belinda versuchte, Renate auf dem Weg zum Parkplatz zu beruhigen. Sie sprach so laut, dass Elena, die ein paar Meter hinter ihnen ganz alleine lief, ihre Bemühungen hören konnte.
Sie duzen sich jetzt , dachte Elena. Sie war Belinda zwar sehr dankbar, dass sie von ihr in Schutz genommen wurde. Gleichzeitig stellte sie aber auch erleichtert fest, dass die Beschuldigungen sie nicht sonderlich verletzten. Sie wollte jetzt nur noch zu ihren Kindern.
Sie saßen auf einer schattigen Bank neben dem Parkplatz, umrahmt von den Kindern ihrer Schwester. Selina hielt ein Buch in der Hand und die großen Mädchen redeten auf sie und Lois ein. Die Großen schienen den Kleinen ganz angestrengt und ernsthaft etwas zu erklären. Julia stand hinter der Bank, zeigte auch auf das Buch und sagte etwas. Als Julia Elena sah, ging sie ihr entgegen, ohne den Blick von ihr abzuwenden, und nahm sie fest in den Arm.
„Elena, das geht so nicht. Deine Kinder leiden. Sie wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Deine Schwiegereltern haben sie ganz schön verunsichert. Ich weiß ja auch nicht, wie man so kleinen Kindern den Verlust ihres Papas erklärt, aber gar nichts zu sagen – außer dass er jetzt im Himmel ist –, ist sicher nicht die Lösung. Ich habe mich im Buchladen ausführlich beraten lassen und das Buch, das Selina in ihren Händen hält, ist anscheinend das beste, das es für ihr Alter momentan auf dem Markt gibt. Ich konnte mich damit nur noch nicht wirklich befassen, aber das, was ich bisher gelesen habe, ist sehr einfühlsam – es beantwortet viele Fragen ganz einfach und verständlich. Es tröstet sogar meine Großen und auch ich selbst habe beim Lesen eine Wohltat empfunden. Es ist noch tief gehender als das erste Buch.“
„Danke, Julia, vielen Dank. Ich bekomme wirklich gar nichts auf die Reihe – ich schaffe es nicht einmal, ein Buch für meine Kinder zu kaufen.“
„Die beiden Bücher, die ich besorgt habe, werden auch keineswegs ausreichen, Elena. Ihr müsst euch einer Therapie unterziehen. Bitte versprich mir, dass du das Thema ernsthaft in Angriff nehmen wirst. Nur weil du drei Absagen erhalten hast, kannst du dich jetzt nicht zurücklehnen und nichts mehr unternehmen.“
„Lass uns erst einmal diesen schrecklichen Tag hinter uns bringen.“
Belinda versuchte beim anschließenden Tränenbrot die Wogen wieder etwas zu glätten – niemand von den Trauergästen sollte etwas von den Diskrepanzen zwischen Elena und den Schwiegereltern bemerken. Unermüdlich hetzte sie zwischen den verfeindeten Parteien hin und her und war bemüht, für alle gleichermaßen da zu sein. Sie tat Elena richtig leid.
„Belinda, kümmere dich bitte um meine Schwiegereltern. Ich komme schon zurecht. Julia, ihre Familie, meine Eltern, Irina und Max sind ja auch noch da. Um die beiden Alten scheint sich sonst niemand zu kümmern. Mach dir nicht so einen Stress. Wir beide finden schon noch genug Zeit zum Reden.“
Belinda lächelte und streichelte Elena über die Wange „Wie gut, dass Manuel dich kennengelernt hat. Mit dir hat er einen richtigen Schatz gefunden. Meine Güte, stell dir vor, er wäre bei mir hängen geblieben! Er hätte so einen wunderbaren Menschen wie dich womöglich niemals getroffen. Und ich auch nicht. So traurig die Umstände auch sind, ich bin unheimlich froh und dankbar, dass ich dich kennengelernt habe, Elena. Du bist ein ganz besonderer Mensch. Kein Wunder, dass Manuel alle seine Pläne für dich umgeschmissen hat.“
„Hat er nicht, Belinda. Er hat nur kleine Lücken für mich – für uns – geschaffen. Seine Träume hat er unverändert weiterverfolgt und eisern auf seine Ziele hingearbeitet.“
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