Mein Kind sucht die Schuld bei sich, registrierte Elena verzweifelt. Verdammt, da läuft etwas ganz gewaltig schief. Und das nur, weil sie sich nicht zusammenreißen konnte und sich nicht die Mühe machte, zu telefonieren. Ich bin so egoistisch , dachte Elena verzweifelt. Manuel wäre enttäuscht von ihr. Wie oft hatte er ihr dafür gedankt, dass sie alle Fäden im Hintergrund zog, das ganze Familienleben organisierte und sich einfach um alles kümmerte, sodass er immer den Rücken frei hatte. Sie erwartete und verlangte wirklich nie etwas von ihm, außer dass er ein interessierter und engagierter Papa war, wenn er zu Hause war, und dass er natürlich auch noch etwas Zeit für sie übrig hatte. So war es gut – für alle. Die Kinder waren zufrieden, wenn Papa mit ihnen Blödsinn machte, spielte, vorlas – auch wenn es manchmal nur eine halbe oder gar viertel Stunde war. Diesen wenigen Minuten verstand Manuel aber so viel Bedeutung zu geben, den Kindern so intensive Aufmerksamkeit zu schenken, dass sie wunschlos glücklich waren. Sie spürten in dieser knappen Zeit sehr deutlich, wie lieb ihr Papi sie hatte. Elena übernahm den Rest – sie erklärte den Kindern unermüdlich, dass ihr Papa ein ganz wichtiger Arzt war und ganz vielen kranken Menschen helfen musste. Sie hatte es geschafft, dass die Kinder in ihrem zarten Alter unbeschreiblich stolz auf ihren Vater waren und ihn immer verständnisvoll ziehen ließen. Selina bat ihren Papa immer öfter, ihr Geschichten aus der Klinik zu erzählen. Sie hörte interessiert und gespannt zu und erklärte immer wieder mit ernster Miene, dass sie auch Ärztin werden wolle. Die Große hatte bei der letzten Nikolausfeier im Kindergarten einer Frau, die voller Mitleid gefragt hatte, ob ihr Papa denn „schon wieder“ keine Zeit habe, erklärt, dass er sehr, sehr kranken Menschen helfen müsse – sonst würden diese doch sterben. Elena war vor Stolz fast geplatzt und hatte sich köstlich über das dümmliche Gesicht und die Sprachlosigkeit der Frau amüsiert.
„Ich lass Papi jetzt auch immer ausschlafen – versprochen“, piepste Lois und riss Elena aus ihren Gedanken. Ich muss antworten, ich muss etwas sagen. Etwas Kluges, Beruhigendes.
„Nein, meine Mäuse, nein, ihr habt gar keine Schuld. Ganz, ganz bestimmt nicht! Der liebe Gott hat den Papa wahrscheinlich dringend in seinem Himmel gebraucht und deshalb hat er ihn geholt.“
„Und wer hilft jetzt den kranken Menschen? Ist der liebe Gott ein böser Mann? Alle Patienten im Krankenhaus haben Schmerzen und Papi kann ihnen nicht mehr helfen. Das ist doch böse.“
Oh Gott, was soll ich denn nur antworten? „Im Krankenhaus sind ja noch viele andere Ärzte, die den kranken Menschen helfen können.“
„Dann soll der liebe Gott einen anderen Arzt holen und Papi wieder zu uns schicken.“
Ich antworte nicht das Richtige – ich mache alles noch schlimmer , dachte Elena verzweifelt. Selina wird immer unsicherer. „Papa war eben ein ganz besonders guter und fleißiger Arzt.“
„Also, wenn ich fleißig bin, komme ich in den Himmel und dann sehe ich Papi wieder?“
Oh, verdammt – nein! Elena brach weinend zusammen. So sehr sie auch versucht hatte, sich zusammenzureißen – es war einfach zu viel für sie.
„Es tut mir leid, Mami, bitte geh nicht auch in den Himmel. Ich bin jetzt ganz leise und brav!“, weinte Selina jetzt ebenfalls und Lois stimmte mit ein.
Das hast du ja super hingekriegt, Elena Schrader , lobte sie sich voller Ironie.
Dem Himmel sei Dank – es klingelte. Elena schickte nochmals ein kleines Dankesgebet in Richtung Himmel. Ich bin jedem tief dankbar, der vor der Tür steht – egal wer es ist.
Als Elena die Tür geöffnet hatte, wurde ihre Dankbarkeit noch größer, denn dort standen Julia und ihre Töchter Doreen und Sarah.
„Elena, um Gottes willen – wie siehst du denn aus, Schwesterherz?“ In ihr Ohr flüsterte sie leise: „Ich weiß, es ist unerträglich, aber bitte, denk doch an deine Kinder.“
„Sie stellen Fragen – so schwierige Fragen. Sie tun so weh und ich kann sie nicht beantworten. Ich sage immer das Falsche. Am Ende bringe ich sie regelmäßig zum Weinen und sie fühlen sich schuldig. Sie trauen sich bestimmt schon bald nicht mehr, mit mir über ihre Gefühle und Sorgen zu reden. Oh, Julia, wie soll ich das hinbekommen?“
„Süße, es gibt doch Hilfe – professionelle Hilfe. Zum Beispiel gute Bücher zum Vorlesen.“
„Ich bin aber zu nichts imstande und das Schlimmste kommt ja erst noch – die Beerdigung. Wie soll ich die überleben?“
„Ich sage es dir so, wie es nun einmal leider ist – du musst dich einkriegen. Ich weiß, das klingt sehr hart, aber das bist du Selina und Lois einfach schuldig. Die Kinder werden lernen, zu verstehen und zu akzeptieren. Aber sie brauchen deine Hilfe – ihr müsst das zusammen durchstehen. Natürlich kann ich mit ihnen zum Psychologen gehen, aber das solltest du selbst tun, Elena. Du musst bei den Gesprächen dabei sein. Du musst lernen, mit schwierigen Fragen umzugehen und kindgerechte Antworten zu geben. Und auch für dich selbst wird eine kompetente Kraft Ratschläge haben, die dir weiterhelfen.“
„Ich will Manuel aber nicht vergessen. Ich will auch nicht, dass die Kinder ihn vergessen. Ich will genauso wenig mit wildfremden Menschen über ihn sprechen – von uns erzählen.“
„Du entscheidest, was und wie viel du erzählst, Elena. Es wird sich im Laufe der Therapiegespräche einfach so ergeben – du wirst schon selber merken, ob es dir doch ganz guttut, zu reden. Ich glaube, dass es dir helfen würde – viel mehr, als du es dir in diesem Augenblick vorstellen kannst. Wenn es nicht so sein sollte, kannst du die Sitzungen beenden. Und in der Hauptsache geht es doch darum, dass du lernst, deinen Kleinen die richtigen Antworten zu geben.“
„Ja, du hast ja recht.“
„Weißt du was? Du kümmerst dich um einen Termin, die Kinder sollen spielen und ich besorge dir ein oder auch mehrere kindgerechte Bücher zu dem Thema. Dann kannst du gleich heute Abend damit anfangen, daraus vorzulesen. – Hast du dich mit deinen Schwiegereltern wegen der Beerdigung geeinigt?“
„Nein, Belinda hat das übernommen. Sie ist gestern Abend noch hingefahren. Sie hat sich bis jetzt leider noch nicht gemeldet. Sie kommt aber bestimmt noch vorbei, denn sie ist absolut zuverlässig.“
Julia versuchte mühsam, den Satz, der ihr im Hals steckte, nicht auszusprechen. Sie schaffte es nicht – sie hätte sich daran verschluckt. Es war ja auch nur ein Bauchgefühl – aber es war sehr aufdringlich und mahnend. Es ließ sämtliche Alarmglocken bei ihr schrillen. Bei Elena schrillte leider nichts. Da machte es nicht einmal leise „piep“ und das war komisch. Denn Elena war von ihnen beiden eigentlich diejenige mit der besseren Menschenkenntnis, mit dem Gespür für Stimmungen.
„Elena, ich weiß, du magst Belinda sehr und du vertraust ihr ganz ohne Bedenken. Ich aber habe ein sehr komisches Gefühl bei ihr.“
„Bist du vielleicht verletzt, weil ich mit ihr so viel über Manuel rede? Bitte sei nicht eifersüchtig und schon gar nicht böse. Du weißt, dass du für mich schon immer ein sehr wichtiger Gesprächspartner gewesen bist. Gleich nach Manuel bist du zusammen mit Papa die wichtigste Bezugsperson für mich. Und das wird für immer so bleiben. Aber Belinda kann mir so viel von Manuel erzählen und sie kann auch wahnsinnig gut zuhören, ohne irgendetwas zu bewerten. Deshalb brauche ich auch keine Therapie. Sie ist momentan die beste Therapeutin für mich – eine bessere kann ich mir nicht vorstellen. Unsere Gespräche haben für mich eine heilende Wirkung. Bitte misstraue ihr nicht. Warum denn auch? Sie müsste sich doch nicht um mich kümmern. Was hat sie denn davon? Ich glaube, sie mag mich ganz einfach. Was sollte sie sonst dazu veranlassen, ihre wertvolle Zeit mit einer Heulsuse – einem Häufchen Elend – zu verschwenden?“
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