„Das kann ich sogar mit absoluter Sicherheit sagen: Ich wollte in diesem Haus so wenig wie möglich vorgesetzt bekommen, also habe ich alles, was ich gebraucht habe, mitgebracht – Zahnbürste, Shampoo, Handtücher und auch eine Bürste. Das Gleiche gilt auch für Selina und Lois.“
„Ich verstehe. Niemand sonst sollte an sie herangekommen sein, also dürften darin nur Manuels Haare sein. Nun zu den Kindern: Ich will das nicht – wie die Alten es von mir verlangen – heimlich machen. Gibst du mir bitte ihre Haarproben?“
„Aber sicher, ich habe ja nichts zu befürchten. Danke, Belinda, vielen lieben Dank, dass du so ehrlich bist. Du bist für mich wirklich zu der wichtigsten Person in dieser furchtbaren Zeit geworden. Ich erzähle dir Sachen, die ich sonst keinem – nicht einmal meiner Schwester – erzählen würde. Manchmal, wenn du gegangen bist und ich darüber nachdenke, was ich dir alles erzählt habe, denke ich, dass ich verrückt sein muss. Die intimsten Dinge plaudere ich aus. Aber ich muss schon sagen, dass du eine unheimlich geschickte Taktik hast, mir diese Dinge zu entlocken.“
„Danke, Elena. Das mache ich aber nicht aus Neugier, sondern weil ich weiß, dass reden in deiner Situation am meisten hilft. Es tut dir gut.“
„Ja, es ist tatsächlich so, als ob ich alles noch einmal erleben dürfte. Alles kommt mir während des Erzählens so real und lebendig vor. Es fühlt sich so vertraut an und ich bestätige mir damit selbst, dass ich das alles tatsächlich so erlebt habe – dass ich mir all diese wunderbaren Szenen nicht nur einbilde. Es ist ganz komisch – auf der einen Seite macht mich das Erzählen unendlich traurig und auf der anderen Seite tut mir die Aufarbeitung, wie du es nennst, sehr gut.“
Belinda lächelte Elena zuckersüß an und diese stellte sich wieder einmal die Frage, warum Julia Belinda so misstraute.
„Du hättest Psychotherapeutin werden sollen. Du hast ein echtes Talent, Menschen, ohne aufdringlich zu werden, zum Sprechen zu bringen und ihr Innerstes nach außen zu kehren. Ich bin froh, dass es dich gibt. Du bist ein richtiger Segen und ich werde nie vergessen, wie du mir in dieser schweren Zeit zur Seite gestanden hast. Ich wünsche dir um Himmels willen nichts Böses, aber wenn du irgendwann einmal Probleme haben solltest, werde ich Tag und Nacht für dich da sein.“
„Ich danke dir. Wie geht es den Kleinen?“
„Na ja, was soll ich sagen? Ich habe das Gefühl, dass das Buch wahre Wunder bewirkt hat. Morgen werde ich noch eines zu diesem Thema kaufen. Das Lesen hilft sogar mir ein Stück weit. Ein Kinderbuch, denk mal.“
„Warum denn nicht? Das ist doch gut, Elena. Es ist vollkommen egal, was hilft, die Hauptsache ist doch, dass du überhaupt etwas für dich findest, was dir über die Runden hilft.“
„Ja, schon, aber ich hab sowieso schon das Gefühl, so kurz vor dem Durchdrehen zu stehen. Stell dir vor, heute habe ich zwanzig Flaschen von Manuels Lieblingsparfüm gekauft. Die Verkäuferin hat mich angeschaut, als ob ich nicht alle Tassen sortiert hätte. Das ist ihr sicher noch nie passiert. Zudem ist dieses Parfüm echt nicht billig. Aber ich sprühe jeden Tag seine Bettwäsche und alles Mögliche damit ein, sodass Manuels Duft ständig präsent bleibt. Der Geruch darf niemals verloren gehen, verstehest du? Verrückt, oder? Das denkst du doch jetzt, stimmt’s?“
Gedankenverloren sagte Belinda vor sich hin: „Parfüm, na klar, Parfüm.“
„Belinda?“
„Ja, nein – mein ich doch. Nein, es ist nicht verrückt, Elena. Manuel hat schon zu unserer Zeit immer großen Wert auf gute Düfte gelegt. Damals war es – ja, was war noch mal sein Lieblingsduft? Lass mich kurz überlegen.“
„ Fahrenheit – es war Fahrenheit Classic und den Duft habe ich schon an dem Tag unseres Kennenlernens tief in mich eingesogen. Niemals hat er ein anderes Parfüm benutzt.“
„Kenne ich nicht. Gibt es da verschiedene?“
„Ja klar, aber wie bereits gesagt, hat Manuel immer nur das Classic benutzt. Es ist so herb, so männlich und gemischt mit seinem eigenen Geruch – ich kann dir sagen, diese Mischung hat mich stets ordentlich angetörnt. Ich konnte mich kaum im Zaum halten. Ich hätte manches Mal ganz animalisch mitten am Tag über ihn herfallen können. Entschuldigung“, stammelte Elena errötend.
„Mädchen, hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Ihr zwei seid ganz speziell füreinander gemacht worden. Freu dich doch, dass du so eine besondere Liebe erleben durftest. Die meisten Menschen träumen ihr Leben lang von so einer Beziehung – so einer intensiven, ehrlichen, freien und auch fröhlichen Liebe. Eine Liebe, die es sonst nur in kitschigen Filmen gibt, ist für euch die Realität gewesen. Du hattest – ihr hattet ein wahnsinniges Glück.“
„Nur zu kurz und ich werde so etwas nie mehr erleben. Kein Mann würde jemals auch nur annähernd Manuels Maße erreichen. Ich werde auch ganz sicher niemals das Bedürfnis nach einer Beziehung mit einem anderen Mann haben. Ich werde bis an mein Lebensende zu Manuel gehören.“
Die Zeit verging wie im Flug und Elena schaute erschrocken auf die Uhr. „Ich muss schnell das Abendessen für die Kinder richten, denn sie müssen ja schon bald ins Bett gebracht werden. Für das Vorlesen muss ich zurzeit auch immer eine gute halbe Stunde, wenn nicht noch länger, einkalkulieren.“
„Ja, mach nur. Soll ich dir beim Abendbrot helfen?“
„Das ist lieb, aber ich nehme schon genug von deiner kostbaren Zeit in Anspruch und du siehst heute sehr müde aus.“
„Ja, die Sache mit unserer Geheimaktion hat mich sehr geschlaucht.“
„Ich hoffe sehr für euch, dass alles gut geht. Ich will dich nicht rausschmeißen …“
„Schon gut, Elena, ich verstehe ja, dass du für die Kinder Ruhe einkehren lassen möchtest. Das machst du ganz richtig.“
„Danke für dein Verständnis, Belinda.“
„Ja, ja, es gibt wohl Wichtigeres, als dich um deine beste Freundin zu kümmern“, scherzte Belinda und zwinkerte Elena zu, die prompt errötete.
Endlich schliefen die Kinder. Es hatte extrem lange gedauert, weil sie Elena beim Lesen immer wieder unterbrochen hatten. Nicht mit Zwischenfragen, nein – sie erklärten ihr immer wieder ganz genau, wie sie das Gelesene verstanden hatten, was zum Teil hochinteressant war. Auf was für Gedanken so kleine Knöpfe kommen. Echt erstaunlich, wie sie sich alles passend zurechtlegen. Diese einfache Denkstruktur, dieses leichte Akzeptieren . Elena fand es beneidenswert. Meistens ist nichts von dem so furchtbar kompliziert, wie es die Erwachsenen sehen. Kinder hinterfragen nicht alles mit dem Verstand, sie müssen nicht alles genauestens analysieren. Sie können sich noch ganz einfach auf ihr Bauchgefühl einlassen. „Wenn ich das doch nur auch könnte“, murmelte Elena traurig.
Gut, dass sie sich schon alles zurechtgelegt hatte. Sie schlüpfte blitzschnell in ihr Kleid, behängte sich mit Manuels Lieblingsschmuck – auch die sehr intime Geschichte, wie Manuel ihr diese Kostbarkeit geschenkt hatte, kannte Belinda schon – und schminkte sich nicht gerade sorgfältig. Heute musste es so in Ordnung sein. Dann rannte Elena die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Im Wohnzimmer machte sie gefühlte hundert Kerzen an und bereitete ein großes Schild vor. „ICH LIEBE DICH“, schrieb sie in großen roten Buchstaben darauf und verzierte es mit vielen Herzchen. Ganz außer Atem setzte sie sich schließlich in Pose auf das Sofa und wartete.
Sie musste sich nicht lange gedulden – das gewohnte Bild tauchte vor dem Fenster auf und das Herz schlug ihr wie jeden Abend bis zum Hals. Es drohte nahezu herauszuspringen. Elena zitterte vor Aufregung und Freude. Sie dachte auch nicht mehr darüber nach, ob sie bereits verrückt war oder ob sie gerade dabei war, es zu werden. Sie hatte einen Plan und heute fing sie mit der Umsetzung ihres Vorhabens an.
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