Er flüsterte mir ins Ohr, als sie nach drei Wochen mit ihrem Schatz die Ankunftshalle betraten:
„Als die Kleine mir am Bart zupfte und mit großen dunklen Augen in mein Innerstes schaute, sagte ich: »In Ordnung. Du hast gewonnen«. Und ob du es glaubst oder nicht, ich werde wieder jung!“
Monate später sprach ihn ein Kunde an. Er hatte das dunkelhäutige Kind wahrgenommen und begriffen, dass es adoptiert sei. „Sie sind wirklich mutig, wissen Sie. Einfach so ein Kind anzunehmen, ohne zu wissen, welche Gene in ihm steckt!“
Christian packte den Kunden am Kragen, zerrte ihn vor einen Spiegel und fauchte: „Welche Gene sehen Sie jetzt? Wissen Sie, welche in Ihnen stecken und Sie beeinflussen?“
Wenige Monate später stoppte ein Ehepaar seinen Kinderwagen vor seinem Geschäft. Herein kam es mit einem Säugling, schokofarben, am Schnuller saugend.
„Sie hatten Recht, damals, egal, was für Gene es hat, es kommt darauf an, wie wir unser gemeinsames Leben gestalten!“
Das Zusammenleben mit meinen Adoptiv-Eltern mag ein Beispiel einer ‚gelungenen Adoption‘ sein und Mut machen.
VON WALD UND TIER GEPRÄGT
Verantwortung
Direkt hinter dem Gutshof, in dem wir zuoberst wohnten, erstreckte sich der Hochwald mit für mich seltenen Geheimnissen. An einer ganz bestimmten Stelle, höher gelegen zwischen alten Buchen, ein steiniger, niedriger, mit Moos bewachsener Wall. Neugierig rollte ich einen der größeren Steine zu Seite und erschrak: Etwas Gelb-schwarzes glotzte mich aus kugelrunden, dunklen Augen an. Statt zu fliehen, fiepte es, vermischt mit einem hellen Knurren. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und schob es mit der anderen auf meine Handfläche. Das kleine Wesen musste ich meinem Vater zeigen. Es machte immer noch keine Anstalten, weg zu laufen. In meiner Handkugel beschützt, eilte ich den Hang hinunter nach Hause. Stolz zeigte ich Vater meine Entdeckung. Er runzelte die Stirn und klärte mich auf: Ein Feuersalamander, streng geschützt, die Haut scheide ein Gift aus, deswegen nie anfassen! Vorsichtig nahm er ein Geschirrtuch, wickelte das winzige Reptil hinein, und gemeinsam brachten wir es wieder an den Fundort, den ich mir gemerkt hatte.
Jahre später, als einige Kinder in meinem Kinderheim von Salamander-Schuhen schwärmten, erzählte ich ihnen diese Geschichte und prahlte damit, diesen Fundort wieder zu finden.
„Das wollen wir sehen“, forderten sie mich heraus.
An einem Wochenende darauf fuhr ich mit zwei Mädchen und zwei Jungen in das Weserbergland bei Trendelburg, führte sie zu der Stelle und – tatsächlich fanden wir unter demselben großen Stein mehrere Feuersalamander.
„Cool. Sind die süß!“ Anerkennendes Schulterklopfen.
Es faszinierte mich, mit meinem neuen Vater an einem mit Wasser gefüllten Bombentrichter aus dem zweiten Weltkrieg den Unkenrufen zu lauschen, die wie fernes Glockengeläut aus der Tiefe des Kraters drangen, geheimnisvoll und spannend zugleich. Mein Vater liebte den Wald mit seinem würzigen Geruch nach Harz und feuchtem Moos, nach vermodertem Holz und frischem Grün. Und seinen Früchten, die besonders in der Nachkriegszeit gefragt waren: Pilze aller Arten, Bucheckern, Brennnesseln als Spinat, Blau-, Preisel-, Himbeeren, wilde Erdbeeren zwischen alten, nicht mehr befahrenen Bahngleisen und Holunderblüten im Mai, aus denen meine Mutter erfrischende Limonade zauberte und Marmelade aus den Holunderbeeren im Herbst.
Ich habe Vaters bitterenttäuschte Mimik gesehen und mitgelitten: Er briet siegesgewiss selbstgesammelte Steinpilze in Butter, einen prallgefüllten Rucksack voll. Nach dem ersten Bissen wurde alles im Mülleimer entsorgt: Bitterpilze! Sie sehen den Steinpilzen zum Verwechseln ähnlich.
Als ich auf einem großen Wasserfass sitzen durfte, mit Sirup gefüllt, und handflächenweise diese klebrige Masse herausangeln und schlecken konnte, war die Welt für mich in Ordnung.
„Der Junge braucht einen Spielkameraden, als Einzelkind wird er verwöhnt! Vielleicht ein Schwesterchen? Dann kann er gleich üben, Rücksicht auf Kleinere oder Jüngere zu nehmen.“
Schnell wurde der als Sehnsucht empfundene Gedanke meiner Mutter in die Tat umgesetzt. Das Jugendamt stellte ein neun Monate junges Mädchen vor, zur Freude meiner Mutter, weil es nicht so fordernd sein würde wie ich, hoffte sie.
Sie war der Sonnenschein unserer Familie, fünf Jahre jünger als ich, moppelig, pflegeleicht. Sie hing an mir, ihrem großen Bruder. Den Gedankenblitz wischte ich zur Seite, dass sie eine Konkurrentin sein könnte. Ich war mir der uneingeschränkten Liebe meiner Eltern trotz meiner Wildheit sicher, in der ebenfalls Platz für meine kleine Schwester sein würde.
Um zu uns gelangen zu können, musste jeder Besucher die Verschachtelung vieler Treppen überwinden, bis er zur sogenannten Falltreppe kam, die in Ermangelung eines Geländers Abstürze provozierte. Darüber wurde später ein Film gedreht: „Die Falltreppe“ mit Ralf Wolter, bekannt als Sam Hawkens-Darsteller in den Winnetou-Filmen. Er spielte meinen Vater und Arnim Dahl doubelte als Stuntman den Versicherungsvertreter, der die Falltreppe hinunterstürzen musste. Nach drei Treppenstürzen war die Szene im Kasten.
Ein Jahr später zogen wir um in die Lüneburger Heide, nach Knesebeck, in ein ehemaliges Forsthaus, mitten in einem großen Waldgebiet, genannt ‚Junkernholz‘, vier Kilometer abseits des Dorfes.
Hier hatte mein Vater sein eigenes Zimmer, in dem er seine Bücher schrieb und seine Texte für Rundfunk und Fernsehen verfasste. Ganz links ein Kanonenofen, an dem ich lernte, wie man mit Reisig und harzigen Tannenzapfen, Minuten später mit Briketts eine angenehme Wärme erzielen konnte. Halblinks ein großer Schreibtisch, mit Bleistiftstummeln in Bleistifthaltern, Radiergummis, eine Adler-Schreibmaschine, Durchschlagpapier, Tischlampe, alter runder Eichenstuhl, rechts flache, gepolsterte Liege als Bett, Stehlampe.
Der Wald verführte mich zu jeder Jahreszeit. Wenn die Sonne stärker war als der Schnee, die ersten Schneeglöckchen und Krokusse und wiederkehrenden Kraniche den Frühling ankündigten, trieb es mich, den Staub aus den jungen, weichen Haselnusslämmchen zu stupsen, die Veilchen und ein wenig später die Schlüsselblumen als Frühlingsboten für meine Mutter zu pflücken. Das junge Grün der Birken und Buchen, die sich entfaltenden Königsfarne, der hämmernde Specht an knorrigen Kiefern und die Kuckucksrufe lockten mich in die Geheimnisse des Hochwaldes. Wenn ich Rehe und Hirsche in ihren Einständen beobachtete, mit Herzklopfen zu den sich suhlenden Wildschweinen im Schutz der Farnkräuter robbte oder mich ihrem Kessel mit den drolligen Frischlingen näherte und, dem Warnschnaufer der Bache gehorchend, mich schleunigst zurückzog, dann lebte ich glücklich in meiner Welt.
„Eine Welt, in der alles in Ordnung scheint, in der alles seinen Platz hat zum Wohle des Ganzen“, wie mein Vater es mir in Gegenwart seines Schriftstellerfreundes Manfred Hausmann vermittelte, als dieser ihm seine neuste Erzählung über den besten Fahrer von Edinburgh präsentierte und mir meine erste Angel mit stationärer Rolle schenkte.
Micki, unsere Airdale-Terrierhündin, und ich saßen fast täglich an der Ise 5, beobachteten Barsche und Hechte, die im klaren Wasser auf Beute lauerten.
Neunaugen faszinierten mich, weil sie sich an größeren Fischen festsaugen, sich Blut und Fleischstücke einverleiben. Spezielle Substanzen in ihrem Speichel hemmen die Blutgerinnung, weshalb bei angegriffenen Fischen keine Blutgerinnsel entstehen. Forscher extrahieren diese Substanz, um sie in der Medizin als Mittel zur Auflösung von Blutgerinnseln zu nutzen.
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