Ich frage mich: Kann man als Adoptiv-Kind seine Mutter oder seinen Vater überhaupt zutiefst lieben? Bedeutet Liebe nicht, ständig in dem Geist beider sich Liebenden aufzugehen, gemeinsam eine Macht zu kreieren? Das Durchtrennen der Nabelschnur impliziert Eigenständigkeit, Loslösung, liebevoll versorgt und begleitet, der Beginn einer lebenslangen Symbiose.
Und wenn diese innige Verbindung zwischen Mutter und Kind durch Trennung beider zerstört wird, macht deutlich, warum aus Angst vor erneuter Enttäuschung Adoptivkinder sich einerseits kaum auf intensivste Beziehung einlassen können und andererseits ständig auf der Suche nach ihr sind.
Wie wirkt sich diese Erkenntnis auf die Heimkinder aus, die von ihren leiblichen Eltern per Beschluss getrennt wurden und bei fremden Menschen leben müssen? Sind sie in der Lage oder willens, eine tragfähige Beziehung zu Sozialpädagogen aufzubauen, angesichts einer Staatsmacht, die meint, eine staatlich-kontrollierte Erziehung diene dem Kindeswohl? Eine Erziehung, frei von intensiver Beziehung und inniger Geborgenheit, aber gesteuert von dokumentierter Professionalität?
War mein vollmundiges Statement, fremde Kinder genauso ‚lieben‘ zu können wie zukünftig meine eigenen, reines Wunschdenken? Müsste ich statt ‚lieben‘ nicht eher den Begriff ‚wertschätzen‘ verwenden?
Die Beziehung zu Heim-Kindern wird geprägt von liebevollen Zuwendungen aller Art, verbunden mit dem Ziel, ein Stück Urvertrauen zu Erwachsenen wieder herzustellen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und sie fit für das Berufsleben zu machen.
Eine wundervolle Aufgabe, der ich mich stellte.
Vater erklärte mir: „Wenn du die Macht hast, Böses abzuwenden, es aber nicht tust, machst du dich mitschuldig!“
Es ist nicht immer leicht, ‚Böses‘ und ‚Gutes‘ zu unterscheiden.
Ein scheinbar unbedeutendes Beispiel aus meiner Kinderheim-Zeit: Nach meiner Meinung sollte das Kinderzimmer aufgeräumt und sauber sein, frei von unangenehmen Gerüchen.
Folglich erinnerte ich Karsten wöchentlich daran, sein Zimmer aufzuräumen. Ich half ihm mit und lobte ihn, wenn es einen Tag lang ordentlich blieb. Verständnislos registrierte ich, dass sein Zimmer zwei Tage später wieder einem stinkenden Saustall glich. Das machte mich wütend. Um ihn zu motivieren, setzte ich fünfzig DM für das sauberste Zimmer als Prämie fest. Das zweite bekam vierzig, das dritte dreißig, das vierte zwanzig und das fünfte zehn. Am nächsten Tag war Kirmes. Das Geld war ersehnt. Alle strengten sich an. Nur Karsten nicht. „Es sieht doch gut aus“, lächelte er verunsichert.
Ich begriff nichts.
Ein Jahr später besuchten wir seine Oma in Hamm. Als ich die Wohnung betrat, waberte ein eigenartig stinkender Geruch in meine Nase, ein Geruch, den ich aus Karstens Zimmer kannte. Mitten im zugemüllten Messie-Haushalt saß Karsten im Ohrensessel seiner Oma und lächelte. Ich sah ihn an und fragte:
„Karsten, wo fühlst du dich wohler? Hier“, ich zeigte auf den gesamten Unrat, „oder in deinem aufgeräumten Zimmer?“
„Hier!“ Wieder lächelte er verunsichert.
Und jetzt begriff ich es.
Monatelang hatte ich ihn mit meinen Sauberkeitsvorstellungen überfordert und gekränkt, ihm sogar Faulheit vorgeworfen. Welch’ ein Trugschluss meinerseits, welche Missachtung seiner Gefühlswelten!
Er verzieh mir, lächelnd.
Ich hatte verstanden, meine Wahrnehmungen und Vorstellungen auf den Prüfstand zu stellen, wenn es um die Loyalität zu einem Kind und seiner Familie geht.
Mir fiel ein, wie sehr ich meine neuen Eltern gekränkt haben musste, jedes Mal, wenn wir Besuch bekamen. Ich spielte Theater und tat so, als ob ich ein armes, armes, vernachlässigtes Heimkind wäre.
Besucher erkundigten sich nach mir, dem Knilch, und fragten, ob es mir gut ginge in der neuen Familie. Krokodils-Tränen rollten über meine Wangen und verstärkten die mitleidigen Blicke über mein grausames Schicksal, von der leiblichen Mutter abgegeben worden zu sein. Der Fairness halber hätte ich freudig lächelnd antworten müssen, dass es mir sehr gut ginge. Das aber tat ich nicht.
Die traurigen Blicke meines Vaters trafen mich. Er setzte sich an mein Bett, der Besuch war gegangen, und schaute mich schweigend an. Und ich spürte ein seltsames Gefühl in mir aufsteigen, ein Gefühl, das ich nicht kannte, das ich nicht wollte. Trotzig heulte ich ins Kissen: Was habe ich falsch gemacht? Es muss aber falsch gewesen sein, sonst würden sie nicht so reagieren, mahnten mich diffuse Gefühle, soweit ich mich erinnern kann.
Meine Mutter war so schwer beleidigt, dass sie zum Gute-Nacht-Sagen erst gar nicht mehr erschien. Das gab mir zu denken. Irgendwie schämte ich mich, und wusste nicht, wofür.
Jahre später las ich das zweite Buch: ‚Herr Knilch und Fräulein Schwester‘, mit dem mein Vater seinen Frust über mich von der Seele geschrieben hatte, allerdings auch, um Adoptiv-Eltern trotz aller Rückschläge Mut zu machen.
„Bist du mit dem, was ich über dich geschrieben habe, wirklich einverstanden, soll ich etwas ändern?“
Diese Frage meines Vaters überraschte mich, zumal ich ihn mit einem aufmüpfigen Spruch zwei Tage zuvor aus der Fassung gebracht hatte. Er wollte mich wieder wegen irgendeiner Eselei mit seinem Spazierstock züchtigen. Ich nahm all’ meinen Mut zusammen und rief: „Denk’ daran, du verdienst dein Geld mit mir!“
Er schaute mich irritiert an, ließ den Stock fallen und zog seine Stirn in Falten. Dann brach es aus ihm heraus:
„Ich habe Krieg und Gefangenschaft überstanden. Ich danke Gott und dem Schicksal. Jetzt bin ich für dich da. Ich weiß, dass Eltern keine Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten können, Adoptiv-Eltern schon gar nicht, wofür auch? Du kannst nichts für dein Schicksal, aber, hast du jemals etwas von Familienehre und Liebe und Loyalität und Dankbarkeit gehört?“
Fragen über Fragen schossen mir als Sechzehnjährigem durch den Kopf, als ich seine Gedanken und Empfindungen las, die das Zusammenleben mit mir betrafen, dem Knilch, oft zermürbend, selten beglückend: Hätte ich bereits damals vom ersten Tag an und immer wieder zeigen müssen, dass es mir in dieser Familie gut geht? Dass sie sich intensiv um mich kümmern? Dass sie meine Eigenarten ertragen? Dass sie mich überhaupt zu sich genommen haben? Dass sie mir zeigen, was gut und was böse ist? Auch, dass sie mich verhauen, wenn ich Mist gemacht habe? Muss ich dafür dankbar sein? Wie zeigt man Dankbarkeit? Muss ich meiner Mutter dankbar sein, dass sie mich in fremde Hände gegeben hat?
Ich stutzte. Und nahm mir vor, nie wieder schlecht von ihnen zu denken oder Falsches über sie zu erzählen.
Betroffen legte ich das Manuskript zur Seite. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, wie anstrengend, wie fordernd ich war, und wie wenig ich zurückgegeben hatte. Ich schämte mich. Aus diesem Gefühl erwuchs der Gedanke, es wieder gut machen zu wollen, bei anderen Kindern.
Wenn Eltern resigniert resümieren: „Wir haben alles erdenklich für dich getan, wir machen alles nur für dich – und du, was machst du? Warum machst du alles kaputt, was haben wir falsch gemacht?“ Steckt hinter diesen Gedanken und Fragen nicht der unbewusste Wunsch nach dankbaren Kindern?
Jahre später erlebte ich Adoptiveltern, die an ihrer selbstgewählten Aufgabe wuchsen. Ihr sehnsüchtiger Wunsch nach einem leiblichen Kind erfüllte sich nicht. Sie wollten aus unterschiedlichen Gründen unbedingt ein Kind, um ihre Ehe zu retten, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, um der biologisch-tickenden Zeitbombe ein Schnippchen zu schlagen und der ureigentlichen „Aufgabe“ einer Frau gerecht zu werden.
Читать дальше