Tolle Idee. Der Malteser-Hilfsdienst hatte kein Interesse, mit zu machen. Vielleicht ahnten die Verantwortlichen, welche Schwierigkeiten auf sie zukommen würden. Mich reizte es, naiv aktiv, wie ich war:
Innerhalb von acht Wochen hatte ich ein Team von ehrenamtlichen Sanitätern, drei Unfall-Ärzten und zwei Piloten zusammengestellt und einen Flugrettungsverein gegründet, als gemeinnützig anerkannt. Räume für das Einsatzteam und der Hubschrauber-Landeplatz standen im Krankenhaus Salzdahlumer Straße bereit. Die Firma Draeger stellte die notwendigen Geräte im Hubschrauber zur Verfügung. Der Oberbürgermeister der Stadt hatte seine ideelle Unterstützung zugesagt, eine Versicherungsgesellschaft begann mit der Beschriftung des Hubschraubers.
Wir trafen uns mit einem Mann vom Fach, um ihm unser Konzept vorzustellen. Er hatte sich einen Namen gemacht mit Notrufsäulen entlang der Autobahnen und mit der Flugrettung bundesweit. Für den Einsatz des Hubschraubers am Unfallort, so erklärten wir ihm, bekam man von der jeweiligen Krankenkasse achthundert DM, für die Verbringung des Notarztes zusätzlich achthundertfünfzig DM, zusammen pro Einsatz eintausendsechshundertfünfzig DM. Für die Wartung des Hubschraubers hätten wir eintausend DM im Monat aufbringen müssen. Da alle ehrenamtlich tätig waren, wären geringe Sachkosten angefallen. Folglich kein Zuschuss-Unternehmen, im Gegensatz zu einem Flugrettungsverein, der nur mit hoher staatlicher Subvention wie Spenden existieren konnte.
Wem hatte ich da wohl auf die Füße getreten? Ich merkte nichts, naiv wie ich war!
Als ich das Rettungswesen öffentlich vorstellen wollte, benötigte ich für den Hubschrauber eine Außenlande-Erlaubnis. Im Notfall kann er überall landen, ansonsten braucht er eine Sonder-Erlaubnis. Ich stand vor dem zuständigen Beamten des Bundesluftfahrtamtes und bat um die Erlaubnis.
„Nein“, sagte er, „die bekommen Sie nicht!“
Ich dachte an einen Scherz. „Warum nicht“, fragte ich perplex.
Achselzucken.
Als ich begriff, dass alle meine Mühen umsonst waren und an diesem sturen Beamten zu scheitern drohten, brach für mich eine Welt zusammen. Meine angestaute Energie, meine Anspannung explodierte in einem fürchterlichen Gebrüll. Vor Schreck kroch die Sekretärin unter ihren Schreibtisch. Der Beamte wurde kreidebleich und atmete schnappartig.
Ich blies alles ab, enttäuscht und frustriert. Und langsam dämmerte mir, dass Geld eine Macht war, die man nicht unterschätzen durfte.
Eine Erkenntnis, die mich als Sozialpädagogen bis ins Mark traf.
Wenn ich an manche Aktivitäten denke, die ich als Heimleiter mit den mir anvertrauten Jugendlichen initiiert habe, frage ich mich, wo mein Verstand geblieben ist, als erlebtes Abenteuer mir wichtiger schien als vom Verstand gelenkter Verzicht:
Mit dem Geländewagen durch zwei Meter hohes Maisfeld gerast, auf den Trittbrettern klemmten Jungen, sich bei offenen Fenstern an Halteschlaufen krallend, laut grölend und total begeistert. Was für eine Mutprobe! Der Mais war von mir bezahlt, die platt gefahrenen Maishalme mit den reifen Kolben boten Hasen, Fasanen, Rebhühnern, Kaninchen Leckerbissen den Winter über. Es war daher sinnvoll, aber nicht normal! Was hätte nicht alles passieren können?
Oder im Schnee. Zwanzig Meter lange dicke Eisenkette an der Anhängerkupplung, alle zwei Meter ein Schlitten mit starkem Karabiner angehakt. Ab ging es durch den Schnee. Der letzte der zehn Schlitten schlingerte am meisten. Auf dem lagen sie bäuchlings, um besser steuern zu können. Blitzartiger Stopp, wenn einer vom Schlitten purzelte. Es klappte immer.
Wenn ein Kind verunglückt wäre? Jeder hätte an meinem Verstand gezweifelt. Triebgesteuert, ohne Verstand? Jeder Richter hätte mich verurteilt, mit Recht!
Genau wie bei der theoretischen Führerscheinprüfung. Ich wunderte mich, dass einige Eltern meiner Heimkinder keinen Führerschein besaßen. Auf meine Nachfrage erfuhr ich, dass sie sich ihn sehnsüchtig wünschten, aber einige Male durch die theoretische Prüfung gefallen seien und resigniert hätten.
Von meinem Antrieb gesteuert, Fremden helfen zu wollen, kam ich auf die Idee, eine Fahrschule aufzubauen, die innerhalb von zwei Wochen die theoretischen wie praktischen Kenntnisse vermitteln sollten. Zum Abschluss der zwei Wochen wäre die Prüfung.
Mit einem Kollegen, der Fahrlehrer war, richteten wir direkt nach der Wende in Mecklenburg-Vorpommern ein ehemaliges Jugendfreizeitheim her, bestückten den Fahrschulraum mit den notwenigen Lehrmitteln und luden fünf Schüler ein, diesen Probelauf, abgestimmt mit der DEKRA, durchzuführen. Vier Prüflinge bestanden den Kurs und erhielten den regulären Führerschein B. Meine Heimkinder strahlten, als ihre Eltern endlich den Führerschein besaßen.
Dieses Fahrschul-Modell konnte nicht fortgesetzt werden, weil der Fahrlehrer verstarb. Ich selbst musste mich intensiver um meine Heimkinder kümmern.
Alles vor diesem neuen Leben in meiner Adoptiv-Familie hatte ich verdrängt, vergessen, vielleicht nie richtig wahrgenommen. Bis auf eine Erfahrung, die mein zukünftiges Leben nachhaltig beeinflusst:
Jedes Mal, wenn ich in die Nähe eines Fleischerladens komme, läuten bei mir alle Alarmglocken: Da gibt es Wurst! Und „Wurst“ war das erste Wort, das ich sprechen konnte. Nicht Mama oder Papa, wie jedes normale Kind, nein: Wurst.
„Denn Wurst bekam er immer geschenkt“, so erklärte die Sozialarbeiterin vom Jugendamt meinen Adoptiv-Eltern, „wenn Peter aus dem Kinderheim abgehauen war und vor der Fleischers-Frau mit strahlenden Augen auftauchte!“
Wie gestern, ein kleiner Junge, der im Supermarkt zielstrebig auf die Fleischtheke zusteuerte, seinen Einkaufskorbwagen hinter sich her rollend. Seine Eltern sahen aus sicherer Entfernung glücklich lächelnd zu. Er strahlte die Verkäuferin an, streckte sein Händchen aus und die Scheibe Kinderwurst verschwand mit gehauchtem Danke in seinem Mund.
Wenn nach den ersten Frostnächten das beste Schwein bei Bauern an der Leiter hing, entborstet, ausgeweidet, die Schlachtebrühe im Kessel dampfte und ich frisches Mett und eine Kanne wunderbar duftender Brühe nach Hause brachte, war ich glücklich. Dieser für mich würzige Geruch erinnert mich heute daran, als Kleinkind mit Lebenswichtigem versorgt worden zu sein, das meinen Hunger stillte und mein Bedürfnis nach Nähe weckte, einer Nähe, die mich wahrnahm.
Immer wieder ertappe ich mich, Kleinkinder zu beobachten, um aus ihren sozialisationsgeprägten Verhaltensweisen Rückschlüsse auf meine ersten vier Lebensjahren ziehen zu können, über die ich absolut nichts weiß.
Habe ich als zwei- oder dreijähriger Junge, genauso selbstbewusst die Umwelt in Besitz genommen, zielstrebig bekundet, was ich haben wollte, wie die kleinen Persönlichkeiten, denen ich heutzutage begegne?
Sie blicken nicht weg, bei Augenkontakt, im Gegensatz zu Erwachsenen, an der Ampel, wenn du aus deinem Auto zum Nachbarn schaust oder im Fahrstuhl direkten Blickkontakt wagst.
Wenn ich kleine Kinder zusätzlich anlächle, verändert sich ihre Mimik, vom Erstaunt-Sein bis hin zum schelmischen Versteckspiel hinter Mamis Rücken. Und wenn manche Mütter missbilligend weiterziehen, muss ich daran denken, wie schnell man in die Ecke eines Pädophilen gestellt werden kann.
Meine Adoptiv-Mutter beklagte sich, dass ich in den ersten Monaten ihr nicht in die Augen habe blicken können. Warum? Wenn dir das Wichtigste im Leben abhandenkommt, bist du ein Nichts. Und ein Nichts hat seinen Blick in den Boden zu bohren, genau wie früher das Gesindel ihrer Herrschaft gegenüber, der Hartz-Vier-Empfänger vor den Göttern der Agentur für Arbeit, der Unternehmer vor dem Kreditinstitut oder der Laie vor dem Kardinal.
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