Kurz danach klingelte Javor mehrfach zu Unzeiten bei der Familie Rentz, um sich vom Sohn und Pflegefachmann Matthias gesundheitliche Ratschläge einzuholen bezüglich seiner Rückenschmerzen und der chronischen Migräne, dem Tremor in der linken Hand und den Magenkrämpfen, der morgendlichen Übelkeit sowie der nächtlichen Unruhe …
Anfänglich spielte Matthias mit, hörte Javor geduldig zu, erteilte ihm Ratschläge, aber irgendwann wurde es ihm zu bunt.
Sobald seine Schwester Eva von einem Sprachaufenthalt aus Paris zurückkehrte, erzählte er ihr davon, und sie versprach ihm mit einem schelmischen Lächeln, sich fortan um den Alten zu kümmern. Sie hatte ihrem Bruder als Souvenir einen mit den Obstgärten von Versailles bemalten Porzellankrug mitgebracht, eine Trouvaille vom Flohmarkt mit den prächtigen alten Bäumen. Eva gefiel offenbar der Gedanke, dass Marie Antoinette vielleicht genau diese Bäume angeschaut hatte.
Als der Witwer eines Abends erneut bei ihnen klingelte, öffnete Eva ihm die Tür. Javor fragte nach Matthias; Eva sagte, er sei nicht zu Hause. Sie habe von ihrem Bruder gehört, es ginge ihm, Javor, gesundheitlich nicht gut. Ob er ihr davon erzählen wolle? Sie stecke mitten in einem Medizinstudium und würde ihm gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen (tatsächlich arbeitete Eva als Sekretärin bei einem renommierten Treuhandunternehmen am Jungfernstieg in Hamburg).
Erfreut nahm er ihr Angebot an und folgte ihr ins Zimmer, wo er sich erwartungsvoll auf dem angebotenen Stuhl niederließ. Sie lächelte und ermunterte ihn, ihr von seinem Befinden zu erzählen.
»Tja, was soll ich sagen, wo soll ich anfangen, Frau Doktor? Da sind diese furchtbaren Kopfschmerzen, die mich heimsuchen, gefolgt von einem Zittern in der linken Hand und Juckreiz im rechten Fuß (…)«
Eva ließ den Redeschwall über sich ergehen, gab sich interessiert und nickte ernst. Als er verstummte und sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn trocknete, sagte sie: »Strecken Sie die Zunge raus.«
Javor tat es. Als Eva seine Zunge inspiziert hatte, kniff sie die Augen zusammen.
»Tja, nun, sieht es schlimm aus?« Der Alte zupfte sich am Bart und stierte sie an.
»Das synchrone Auftreten der geschilderten Symptome ist gewiss kein gutes Zeichen. Und Ihr Zungenbelag gefällt mir gar nicht.«
»Brauche ich Medikamente?«
»Allerdings. Warten Sie einen Moment.«
Sie ging aus dem Zimmer und kehrte wenig später mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück, und er schluckte die Medizin bereitwillig. Nun fühlte sie seinen Puls und blickte dabei auf ihre Armbanduhr. Danach sah sie ihm mit der Miene eines Leichenbestatters in die Augen.
»Ich muss doch noch nicht sterben, nicht wahr?«
Sie zuckte die Achseln. »Wir müssen alle sterben.«
»Gewiss, aber … noch nicht bald?«
»Sehen Sie, der Vater eines mir Bekannten hatte die gleichen Symptome wie Sie. Wenige Wochen später wurde er eingeäschert.«
»Um Gottes willen!« Javor wurde leichenblass und bekreuzigte sich. Erregt erhob er sich vom Stuhl, auf seinem Hals zeichneten sich rote Flecken ab.
»Ruhig Blut, Javor!« Eva war ebenfalls aufgestanden. Sie nahm ihn beim Ellbogen und führte ihn behutsam zur Haustür, und ehe sie ihn hinauskomplimentierte, erteilte sie ihm noch gesundheitliche Ratschläge.
Als Eva die Tür abgeschlossen hatte und ins Zimmer zurückkehrte, wartete Matthias bereits auf sie. Er hatte im Nebenraum gelauscht und lehnte mit verschränkten Armen schmunzelnd am Türrahmen.
»Und, was sagst du?«, fragte sie.
Er fasste sie mit beiden Händen an der Schulter, berührte mit den Lippen ihren Scheitel und nuschelte ihr ins Haar, das nach Apfel roch: »Du bist eine elende Quacksalberin, Schwesterherz. Eine von der übelsten Sorte.«
»›Frau Doktor‹, wenn ich bitten darf!« Sie knuffte ihn gegen die Schulter.
Matthias grinste amüsiert. »Was hast du dem Armen für eine Pille gegeben?«
»Na ja, eigentlich wollte ich ihm eine Kopfschmerztablette verabreichen. Doch die waren alle.«
»Und dann?«
»Da habe ich ihm eine meiner Antibabypillen gegeben.«
Er legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich.
»Du verarschst mich doch.«
»Pas du tout! Warum sollte ich?«
»Du bist unglaublich … Aber das warst du schon immer.«
»Danke. Ich war auch schon immer eine gute Schauspielerin, nicht wahr?«
Er nickte sinnierend. »Ich kann mich noch gut an jene Schulaufführung erinnern, in der du die Hauptrolle der Gaia im Stück ›Mutter Erde‹ gespielt hast. Du hattest so ein wunderbares Kleid an, voller Blüten und Blätter, und dein Gesicht war ganz grün geschminkt. Fast wie Poison Ivy in ›Batman‹, nur netter und nicht so giftig.«
Den Blick leicht gesenkt, lächelte sie versonnen vor sich hin und strich sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren.
»Ich saß in der vordersten Reihe und war so mächtig stolz auf dich. Auf deine starke Bühnenpräsenz und die Art und Weise, wie du deine Texte makellos vorgetragen hast, und wie du sofort improvisiert hast, wenn einer der Jungs seinen Einsatz verpasste oder sich verquasselte und nicht mehr weiterwusste … Am Ende beteten deine Schulkameraden dich an und lagen dir praktisch zu Füßen, und der Applaus wollte kein Ende nehmen.
Ich hab mir die Hände wundgeklatscht, und Oma neben mir nahm sich die Brille ab und wischte sich Tränen aus den Augen …«
Der Kellner holte Matthias in die Gegenwart zurück, indem er ganz in seiner Nähe demonstrativ und methodisch damit begann, mit weit ausholenden Bewegungen den Boden zu wischen.
Matthias hatte Verständnis für des Kellners Ungeduld, schließlich war es bereits Mitternacht und das Pärchen hatte sich vor einer Viertelstunde auch auf den Weg gemacht. Leise seufzend, noch immer in die Erinnerung an seine Schwester versunken, erhob er sich, nickte dem Kellner zu und ging nach Hause. Beim Verlassen des Cafés fiel ihm plötzlich ein, dass Javor nach jenem Abend, als er von Eva »behandelt« worden war, nie wieder bei ihnen geklingelt hatte.
Ganz in der Nähe seines Wohnblocks parkte ein Streifenwagen der Polizei. Erschrocken blieb Matthias stehen, als er ihn erblickte, und er sah sich schon im Treppenhaus von uniformierten Beamten in Empfang nehmen, die sodann seine Wohnung durchsuchen und das geraubte Lösegeld entdecken würden, wonach sie ihn verhafteten. Schuldgefühle kamen hoch, Reue, die Angst, erwischt zu werden.
Da vernahm er eine zeternde Männerstimme, und im Lichtkreis einer mit Efeu umrankten Laterne tauchten gleich darauf zwei Polizisten mit Gardemaßen auf, die einen gedrungenen Kerl mit wirrem Haar in abgewetzter Kleidung abführten. Einen kurzen Moment lang waren die drei Gesichter vom kühlen weißen Laternenlicht scharf umrissen. »Das waren doch bloß ein paar harmlose Ohrfeigen, weil meine Alte hysterisch geworden ist!«, schrie der Kerl.
»Hören Sie auf herumzuschreien, sonst kassieren Sie eine Geldbuße wegen nächtlicher Ruhestörung!«, herrschte einer der Ordnungshüter den Delinquenten an, öffnete die Hintertür des Streifenwagens, drückte ihm den Kopf nach unten und schob ihn unsanft auf die Rückbank.
Matthias bemerkte die Handschellen auf dessen Rücken. Betont gemessenen Schrittes begab er sich zu seinem Wohnblock und schloss die Haustür auf. Zu seiner Erleichterung hörte er den Polizeiwagen abfahren.
Noch mal gut gegangen …
Er stieg die abgetretenen steinernen Treppenstufen empor. Im Wohnzimmer ließ ihn sein schlechtes Gewissen das Tablet aktivieren und in der Rubrik »News« nach Nicole Steiner und ihrem Vater googeln, aber er fand nichts, was er nicht schon in der Tagesschau erfahren hatte. Als er weitersuchte, konnte er jedoch die Privatadresse der Familie Steiner ausfindig machen.
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