Dank der rühmlichen Fürsorg des Magisters Raimund Winkler, welcher den Öblinger Kindern das heilige Evangel sowie den Katechis hinreichend und sattsam eingedrillt, hatten sie itzt nicht not, die schläfrigen Stunden des Silentiums mit besagter Memorierkunst auszufüllen. Sie entwichen vielmehr bei schicklicher Gelegenheit hinauf in das Orgelgestühl, und sich in die Schar der Sängerknaben mischend, welche kunstvolle Kantaten und Messen übten, musizierten sie aus ihrem ungehobelten Kehlkopf wacker mit. Solches bemerkend, drückte der regens chori anfänglich ein Auge zu. Mußte jedoch ob ihrer unbändigen Stimm alsbald auch das Ohr zudrücken und sie schließlich fortschaffen.
Die drei Stralzenbuben pilgerten wohlgemut um ein Häusel weiter. Indem für sie nämlich auf der Landkarte nichts Gescheites zu sehen war, würden sie, wie Matthäus ganz richtig behauptete, die Welt schon einstmalen auf der Wanderschaft kennenlernen. Fürderhand schnüffelten sie zu Admont jedes Mausloch aus. Und da kamen sie, weiß nicht wie, zu einem großen schmiedeeisernen Schlüssel. Selbiger sperrte das Haustheater auf, welches der kunstsinnige Abt Gotthardus trotz Krieg und Teuerung nach städtischem Muster hatte erbauen lassen.
Die Stralzenbuben ergötzten sich baß an Dekoration, Versenkung und Maschinenwerk, und sie haben sich mehreren Spießgesellen anvertraut und etlichmal im puren Mondschein den »Boarischen Hiasel« aufgespielt … was nie und nimmer ist entdeckt worden.
Also ist erwiesen, daß sie ihre Studierzeit mit wenig Eifer und Nutzen verwendeten.
Lukas, der Kleinste, mußte ihnen die Hausaufgaben anfertigen. Markus hatte sich aus solcher Ursach eine sehr schräge, Matthäus eine kerzengerade Schrift zu eigen gemacht, welche unschwer nachzuahmen war. Und das Kind befleißigte sich dessen; praktizierte zum deutlichen Unterschied in jedes Pensum andere Fehler, so daß die drei Öblinger letztlich auch durch mannigfache Wunderblüten der deutschen Sprachkunst hervorstachen. Die Regeldetri jedoch behandelte Lukas mit größerer Sorgfalt, weil er, ordentlich und sparsam veranlagt, bei diesem Verfahren bald spürte, daß Geld und Geldeswert nur durch ehrliche Arbeit im richtigen Verhältnis zueinander bleiben. Er empfand es freilich nur in primitivsten Begriffen, etwa so: wie eins und eins zwei gibt, unter der Bedingung, daß man nicht schwindelt.
Einen gewissen Sinn für die Welthistorie hatten alle drei vom Vater übernommen. Doch zur Zeit reichte er just für die sichtbarsten Äußerungen derselben, wie Feldzüge, Schlachten, Aufstände und die dabei in Betracht kommenden Waffen und Uniformen. Den Grund oder Zusammenhang der Begebenheiten erfaßten sie noch nicht, etwa schon deshalb, weil sie unreif und ohne Vorkenntnis in dem Mittelpunkt einer furchtbaren Epoche standen. Sie hörten geschichtlichen Erzählungen mit rührender Hingabe zu, begeisterten sich, aber weil es im Letzten, Tiefsten nur bildlich blieb, verwechselten sie die Dinge bald.
Geradezu taub waren sie für physikalische Belehrung. Matthäus hatte auch in diesem Punkt die maßgebende Ansicht. »Das Wetter …«, sagte er, » … steht im Mandlkalender, und das andere ist ein Dreck.«
Die Brüder nickten und betrachteten den Gegenstand für erledigt.
Derart also gestaltete sich der Bildungsgrad der Stralzenbuben; und als sie im Jahre neun mit rot durchstrichenen Theken und spottschlechten Zeugnissen kreuzfidel in die Ostervakanz fuhren, konnte jedermann bereits annehmen, daß sie ohngeachtet ihrer hellen Köpfe niemals würden dem Gymnasium zur Zierde gereichen.
Zumal aber die Umstände einer großen herzbewegenden Not alles Persönliche in den Hintergrund drängten und der Stralz mit seiner Zeitung, dem Tagebuch und kriegerischen Gesprächen genug zu tun hatte, fiel der Empfang nicht sehr betrüblich aus, und das Gesicht der Buben strahlte immer breiter in ganz strafwürdiger Glückseligkeit.
Sie fasteten alsdann am Karfreitag, heiligten löblich die Ostervigil, indem sie ein Osterfeuer auf dem Hollerbühel abheizten, taten Sonntags dem Geweihten alle Ehre an und trabten schon am Dienstag wieder nach Admont, weil dortselbst ein großer Wolf sein Unwesen trieb.
Wie vormals angedeutet, war das Vaterland der Schauplatz bitterster Begebenheiten. Rückblickend fand der Stralz in seinen Aufzeichnungen bedenkliche Lücken, welche er seit Jänner mit Absicht frei gelassen. Er gedachte nämlich in späterer Zeit sie mit dem wahrhaftigen Sachverhalt der Dinge auszufüllen, sintemal sie itzt noch entstellt in das Volk kämen oder gar vertuscht würden.
Dieses letzte bestritt zwar sein Gevatter, der Ennshofer, der häufig herauffuhr, um zu disputieren, ansonst aber waren sie einig, fürnehmlich was den Generalissimus Erzherzog Karl betraf. Sie hatten sich gleich ihm gegen eine allzu frühe Erhebung gewehrt, weniger weil sie über die ungeschulte Landmiliz ihre Befürchtung hegten oder den bedrohlichen Worten Napoleons Gehör gaben, viel eher aus der Bedächtigkeit und Ruhe ihres Hausverstandes, der alles abwartete und doch nie zu spät kam.
Ganz gegenteiliger Ansicht war der Pfleger von Gstatt, der im vergangenen Herbst den Erzherzog Johann auf die Gemsjagd begleitet hatte. Seine Hoheit, so erzählte Pater Gabriel, wäre unverhohlen für das Dreinschlagen begeistert und habe, während sie im Schwarzensee des Weidwerks pflogen, Forellen fischten und schließlich acht Stunden Wegs bis Öblarn unter die Füße nahmen, deutlich ausgesprochen, daß der Kanzler Graf Stadion und angeblich sogar Fürst Metternich einem Beschlusse zustrebten und, von der Kaiserin unterstützt, ihr Ziel zweifellos auch erreichen würden.
Wie recht Pater Gabriel behalten sollte, zeigte sich bald. Und vom Beispiel sowie vom Aufrufe der guten Wiener angezündet, flammte der vaterländische Opfersinn um sich greifend in entlegensten Dörfern empor, und schon im Winter ging zugleich mit den Freiwilligen und den angeworbenen Rekruten mancher Schlitten über die verwehte Landstraße gegen Grätz zu, vollbepackt mit Messingpfannen, mit Mörsern, kupfernen Schnapskesseln und blanken Gugelhupfmodeln aus dem ehrwürdigen Hausrate der Bürgersfrauen und Bäuerinnen.
Das Frühjahr, obwohl von Schneewehen, Sturm und Regengüssen heimgesucht, stand allbereits im Zeichen des Krieges. Und Vater Stralz verfolgte die Entwicklung desselben mit wachsender Teilnahme. Er saß abermals bis tief in die Nacht über die Zeitungen und Extrablätter geneigt, um so mehr, als diese stoßweise eintrafen und dann wieder durch die Unregelmäßigkeit der Post für Tage und Wochen ausblieben. Die meiste Bedeutung legte er den Vorgängen an der Donau bei. Als jedoch die Berichte darüber unklar wurden und schließlich jedes Abschlusses entbehrten, als er, auf dem Plane von Bayern nachprüfend, seinen Finger immer näher der österreichischen Grenze rücken mußte, fing er an, den Kopf zu beuteln, durchstrich in seinem Tagebuch diejenigen Stellen, welche er von Amts wegen erfahren und notiert hatte, und rechtfertigte sich im Anschluß daran folgenderweise:
»Schreiber dießer Zeilen findt es für Geziement, Schein und Beschönigung aus sein Büchel zu entfernen; dieweil solches wohl zur Beruhigung der tumen Leuth zweckdienlich, eines aufmerkenten und Bedachtsamen Bürgers aber unwürdig ist. Er siehet ferners auch von Niederschrift der Gerücht und Lugen ab, so durch mancherley Abendtheurer in Umlauf gebracht werdent, und will zuwarten, bis er die Schlappen, denn sotane mögen es wohl seyn, aus der Perspektive beurtheilen kann.
Mit Vergunst hätte Man dem Lauff der Welt nit sollen fürgreifen, sondern Bedenken, das auch dem Außland wird die Gal übergehen, insonderheit den bayrischen Brüdern, welche itzt, Gott verzeih Ihnen die Sünd, ihr teutsches Blut mißachtent, sich an Österreichischen Länden, nenne Tyrol vergreifent und den Hunden von Rothhosen ihner schäbiges Malzbier teuer anhängent. Die richtige Zeit für einen Vormarsch wär um Pfinzten gewest, wo das Summertraid ist gesäet und die Erdnudel und das Blaukraut gesezet. So manches Knechtel hätt der Bauer noch herlassen. Und kein solches Sau Wetter hätt sie nit aufhalten. Item! daß sie bei Alt Ötting schon steckengebliem, wird aber auch das Wetter nit verschuldt haben, vielmehr eine Lästerliche Schlamberey des Generalquartir Meisters Prochaska. Der Veitkramer, so bis Oberndorf Hausieren geht, weiß dießes, sintemahl es eine Bayrische Gräntzwach auf der Lauffner Brucken kund gethan hat.
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