»Bst!« sagte Hansei, »die großen Leut werfen Steine her, und die kleinen hüpfen über sein Herz, selthalben kann er nit schlafen.«
»Warum ist er denn verdammt?« frug das Dirndl scheu.
»Bst!« sagte Hansei. »Sei stad und bet ein Vaterunser für ihn. Er hat ein Herz wie der schwarze Balthauser gehabt. Wo viel Liab ischt, da ischt viel Myrrhe.«
»Was ist das?« frug Matthäus.
Der Bäck wußte es selbsten nicht genau. Seine blauen Augen glurten leer und rund in den Schein. Er sagte mit starren Lippen:
»Die Myrrhe ischt ein Tropfen … gelb wie der Wein und bitter wie der Tod. Ihr werdet sie annoch koschten müssen. Dann gedenket an die arme Seel in der Gruben. God sei uns allen gnädig! Amen.«
Matthäus zog das Mädchen aus dem Winkel fort. Es war ihnen beiden kalt und bang geworden. Sie wagten nicht umzuschauen, sie gingen mit eiligen Schritten aus dem dunkeln Freithof und erzählten keinem Menschen, was der Hansei Rares zu ihnen gesagt hatte.
Am Tage vor Martini sprach der Propsteipfleger beim Stralzen vor. Er hatte ein graumeliertes, festes Papier in der Hand, welches der Länge und der Breite nach zweimal gefaltet war und dort, wo die Ränder des Schreibens sich berührten, eine schon erbrochene bischöfliche Sigill und auf der andern Seite folgende Anschrift zeigte:
Grätz.
An die Propstey Herrschaft Stainech
Gstatt.
Im Schreiben selbst gab der Prälat in regelmäßigen, edlen und ein wenig nervösen Zügen seinen Willen solchermaßen kund:
»Lieber Pfleger!
Ich bin dem Wunsche des Pater Isidor gar nicht entgegen, da ich ihn ganz billig finde; und ist demnach von Seite der Herrschaft mit dem Pächter Stralz zu unterhandeln, daß er gegen verhältnismäßigen Abzug an Pachtquantum, das 1/4 Tagwerk vom Dienerfelde, welches hienach zu messen sein wird, abtrete. Dieses wird denn zum unentgeltlichen Genusse ad dies vitae meae nach Pater Isidors Gesuch zu vertheilen sein, bei meinen Nachfolgern wird um Fortsetzung dieser Wohltat anzusuchen sein. Ich will diese Kleinigkeit nicht gerade alieniren, indem es viele Schreiberei kosten würde, als ob darüber die Herrschaft Gstatt zu grunde gehen könnte. Pater Isidor hat sich um meine Pfarre schon viele Verdienste erworben, daß es billig ist, sich derselben durch das bei meinen Nachfolgern zu erneuernde Gesuch zu erinnern. Dies ist demselben als Bescheid auf seine an mich einbegleitete Bitte zu intimiren.
Grätz, den 6. November 1806. Gotthard, Abt.
NB. Dem Bauern vulgo Hochsattler in der Sölk wird eine entsprechende Entschädigung von 15 fl. für den vom Hochwild verursachten Schaden, sowie ein Metzen Korn zu überweisen sein.«
Vom Matthäus Stralz stand kein Wort. Und maßen dies als Zusage anzuerkennen war, packte die Frau Mutter ihm den Koffer. In der Morgenfrühe des Martinitages stiegen Vater und Sohn, zur Reise wohlgerüstet, in den eigenen Wagen, der sie zunächst bis zum Herrn Göden nach Stainach bringen sollte. Von dort aus gedachten sie die Post zu benützen oder auch für eine längere Wegstrecke die Fahrgelegenheit des Matthäus Ennshofer. Denn es war wohl zu erwarten, daß er selber eine derartige Einladung entgegenbringen werde, indem er nämlich längst versöhnt war und zu den Osterfeiertagen allemal einen verläßlichen Boten schickte mit einem Korb, enthaltend gebundene und gefärbte Eier, drei flaumige Weihbrote und drei Silbertaler.
Voll Gedanken nun, die sich auf den Göden, auf süßes Zuckerwerk und die unbekannte Welt bezogen, saß Matthäus vergnügt in der Kutsche.
»Schau dir’s Haus gut an, was … so Gott will … später dein gehört, und mach ihm keine Schand.«
So sagte der Herr Vater.
Die Frau Mutter wischte sich mit dem Schürzenzipfchen die braunen Augen aus, drückte ihm zitternd das Kreuz auf Stirne, Lippen und Brust und trat wieder zurück unter die Dienstboten und Einleger, die auch beim Haustor standen. Die beiden Brüder hatten den Hund am hänfernen Strick gepackt und hielten ihn immer fester und schauten wie junge Stiere. Ganz umsonst befahl ihnen die Regina, sie sollten »Pfüat Gott« sagen. Ganz umsonst.
Da nahm sich die kleine Stralzendirn den Mut, lief zum Wagen, streckte die rauhe, abgeschürfte Kinderhand mühsam hinauf. Und sagte mütterlich und doch schelmisch lächelnd:
»Mein Liaber, hiaza muaßt brav sein!«
»Hüa!« schrie der Matthäus und faßte keck die Zügel, die auf seines Vaters Knien lagen. Und fuhr davon.
Da gab es den Brüdern und dem Hund einen Ruck. Und sie liefen der Kutsche nach, bis sie müde wurden.
Aber Matthäus drehte sich nicht mehr um.
Ähnliches trug sich auch in den folgenden Jahren zu, nur weniger feierlich und hoffnungsfreudig.
»Mach’s du besser!« hatte der Stralz zum Markus gesagt. Den Lukas aber entließ er ohne Spruch und Lehre.
Und nun saßen sie alle drei in der untersten Klasse des Benediktinergymnasiums. Dem Matthäus wurde in Anbetracht seines mächtig breiten Buckels ganz hinten der Platz angewiesen; dem Lukas ganz vorn, weil er seit dem Frühling erst elf Jahre alt war. Sie verachteten die mannigfachen Disziplinen der Wissenschaft beinahe gleichmäßig. Im Lateinischen kam der Älteste itzt das drittemal ohne Hindernis zur konsonantischen Deklination. Für dieses schwierige Kapitel brauchte er bereits sein eigenes System, zu welchem er herablassend auch die Brüder anlernte.
»Merkt euch«, sagte er, »eine unteutsche Sprach ist wie ein ausgedarrtes Brotstück, kannst rundum nichts wegbeißen.«
»Ist eh wohl wahr«, hatte Markus beigepflichtet.
»Wann mir wer eine harte Rinde fürhalt, sag ich allemal, ich hätt inwendig ein Halsgeschwür. Und bald mir der Professa einen Brocken zuschmeißt, der mir nit zum Maul steht, nachher hust ich, daß ihm mein Speichel ins Gesicht spritzt.«
»Hülft dir das beim Schreiben auch?« hat Markus boshaft gefragt.
»Beim Schreiben, o je … Wann mich ziemt, es ist ein Wort gefehlt, so schmier ich gleich einen Batzen drüber.«
Daraufhin gab Markus sich zufrieden. Wie es jedoch mit dem Lukas soweit war, sagte das Kind hartnäckig:
»Mein Liaber, so taten die römischen Schriftgelehrten nit!«
»Scher dich nit, du Tschappel! Die römischen Schriftgelehrten hat Godvater bei der Sündflut ersäuft.«
»Und die Patern?«
»Meinst …«, rief Matthäus Stralz lachend, »meinst … die traun sich mit mir raufen?«
Markus bekundete wenigstens für Tiere und Pflanzen einiges Interesse. Er war auch, was Erfassen und natürliches Beobachten anlangt, den Stadtkindern voraus, obschon er früher die lebendigen Geschöpfe gedankenlos übersehen hatte. Aber das Heimweh äußerte sich nunmehr auf seltsame Art. Er beschrieb in den Freiviertelstunden jedes Pferd, Rind und Schaf in seines Vaters Stall; er konnte die Knochen und Eingeweide dieser Tiere mit solcher Genauigkeit aufzählen, als wäre er ein geprüfter Kurschmied. Wußte die Brutzeit der Vögel und bestimmte nach den Farben, Sprenkeln und Tupfen der Eier, was für ein rares Federvieh sich daraus entwickeln werde. Wann die Zöglinge, in Reih und Glied spazierend, weitere Ausflüge unternahmen, blieb er oft selbstvergessen bei einem pflügenden Knecht, bei Schnittern oder Mähdern stehn, bis ein Jünger des heiligen Benedikt oder ein Frater Dominikaner ihn zu vorschriftsmäßigem Betragen anhielt.
In der Schule selbst vermochte er über die Natur nichts auszusagen. Ja, er mußte zuweilen auflachen, und es bereitete ihm den spaßigsten Eindruck, wenn die Lehrer um Dinge frugen, welche man seines Erachtens entweder von selber verstand oder sein Lebtag nicht zu wissen brauchte. Trotzdem verspürte er niemals Langweile. Er versah seine zahlreichen Studierbücher mit Abziehbildern, las Räubergeschichten und Volksbücher; und gar seit das Stiftsgymnasium durch ein Dekret Franz des Ersten restauriert war und die Zöglinge das dunkle Dominikanerkloster mit der lichten weitläufigen Abtei zu Admont vertauscht hatten, befand er sich als heimlicher Forscher stetig auf den Beinen.
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