Der Abt nahm wieder sein beinernes Notiztäfelchen und verzeichnete diesen Punkt, dabei versprechend, daß er binnen weniger Tage seinem Pfleger ausreichende Vollmacht geben werde. Alsdann verstummte das Gespräch. Man hörte das Laub, wie es flatterte, und die Feder, wie selbige hart, achtsam oder unsicher über das Papier gelenkt wurde. Es richtete sich die Aufmerksamkeit der Bauern nun größtenteils auf den schreibenden Magister, und manch einer, der des Lesens unkundig, schaute ihm bedächtig über die Achsel zu. Und es schien, als habe ein jeder das Seinige ausgesprochen und abgetan, und sie warteten mit großer Geduld und Beschaulichkeit, bis Raimund Winkler fertig sei und Gotthardus sie insgesamt verabschieden würde. In dieser hölzernen starren Gepflogenheit waren sie bewunderungswürdig. Ob es nun Arbeit, Handel, Genuß oder Gebet, ja selbst Leiden oder letztes Ende war, sie hatten für dies alles Zeit und Weile. Keine Ader zuckte schneller; kein Nerv verwirrte sich. Doch eben in ihrer Ruhe lag die Kraft und Zähigkeit. Und sie lebten so sicher, weil sie so langsam lebten.
Solche wie den Stralzen gab es freilich sehr wenige. Er war ein zum vollen Bewußtsein erwachter Mensch, welcher von seinem Gemüte das Weiche ausschied und von seinen Pflichten nur das Gesunde und Zweckmäßige tat. Ein hoher Baum, auf freier Weide wachsend, der von Winden und Wettern nur so viel nimmt, als er bedarf, der Regen und Sonne mit hunderttausend feinen Organen dürstend und andächtig, doch ohne zu danken, empfängt, der die Himmelsvögel und die häßlichen Raupen bewirtet und die vielfältigen kleinen Gräser mit seiner Krone überschattet, daß sie nicht leben und nicht sterben können.
Und was der Stralz zum Prälaten sagte, geschah aus ebendemselben Gesetz, durch das ein Baum, wenn es an der Zeit ist, seine runden, roten Äpfelchen abfallen läßt, damit sie ihrem Zweck und dem Zweck der Natur Genüge tun. Nur daß der Stralz sich dessen, wie erwähnt, vollkommen bewußt war.
Sein ältester Bub, so fing er zu reden an, wär itzt im fünfzehnten Jahr und verhalte sich der elterlichen Zucht gegenüber leider schon widerstrebend und despektierlich. Mit gesunden geraden Gliedern, einigem Mutterwitz und Verstand ausgestattet, mißbrauchte er aber solche Eigenschaften lediglich zu Spitzbübereien, so daß er von Stund an zu ernsthafter Arbeit müsse verhalten werden.
Der Magister, so gerade aufstund, sich räusperte und seine Schrift dem Berghammer zur Unterzeichnung hinreichte, trat, von der klugen Äußerung des Stralzen erbaut, dem Zedler auf die Füße. Und entschuldigte sich höflichst. Der Kurschmied hatte weder das eine noch das andere bemerkt, sondern behauptete, mit dem ganzen Gesicht strahlend, daß sein Gödelkind, der Lukas, ein Prachtkerl wär.
Da konnte Raimund Winkler nicht umhin, laut aufzuseufzen. Es brauchten alle drei Stralzenbuben tüchtig ihren Herrn, sagte er. Und von diesem speziellen Exempel und Casus abgesehen, rate er jedem Schüler, sobald er sein zwölftes Jahr erreicht, sich einer höheren Fortbildung zu unterziehen.
Dies … pflichtete Vater Stralz mit Aufmerksamkeit bei … wäre seine Absicht und Beschließung. Die Wissenschaft über die Zustände des Lebens und der Natur sowie der Fertigkeit des Rechnens, Briefschreibens und Lesens stünde auch einem Bürger wohl an. Sollte aber sein Matthäus Fleiß und Findigkeit bekunden, alsdann wären ihm Vater und Mutter nie und nimmer hinderlich, geradewegs ein Studierter zu werden. Und er frage derohalben den hochwürdigen Prälaten, ob er gesonnen sei, das Kind in das Konvikt der Benediktinerabtei aufzunehmen.
Das Stiftsgymnasium habe bekanntlich ein Dekret Josephs des Zweiten abgetan, sagte Gotthard. Ob er das nicht wisse? Freilich wohl, entgegnete der Stralz. Indem solches aber an zwanzig Jahre her sei, habe der Hochwürdige Herr Prälat sicher wiederum eine bessere Schule instand gesetzt, schon zum Zwecke, daß die Sängerknaben lehrreich abgerichtet würden.
Der Abt sann eine Weile. Plötzlich aber schüttelte er den Kopf, als wenn er üble Gedanken fortwiese, und sprach zögernd.
Wäre der Stralz seinem Sohne ein regelrechtes Studium willig, so müsse er denselbigen nach Leoben bringen, allwo die gelehrtesten Patres von Admont die klassischen Sprachen sowie geistliche und weltliche Wissenschaft vortrügen.
Der Herr Vater gab keine Antwort.
Er wölle gelegentlich einer Reise nach Grätz, die sehr nahe befürstünde, in Leoben absteigen und mit dem Präfekten einer Rücksprache pflegen, schlug Gotthard vor.
Vater Stralz jedoch betonte itzt, daß er zu Admont einen leiblichen Bruder habe, in Leoben herentgegen nicht Freund noch Anverwandten, und daß er zu so gefährlicher Zeit den halbwüchsigen Buben nur ungern aus aller familiären Obhut ließe, maßen man die verheerenden Einbrüche der Franzosen stets zu gewärtigen habe und mithin ein Kind gar mancher Mißhandlung und Gewalttat wie auch dem bösen Beispiel schutzlos preisgebe.
Das Gymnasium befände sich aber im Dominikanerkloster, bemerkte Pater Isidor hinzutretend. Und der Prälat fügte nach abermaliger Überlegung bei, daß sich vorderhand auch keine Aussicht öffne, selbige Schule dem Stifte wieder einzuverleiben. Ein Majestätsgesuch, diesen Wunsch betreffend, wäre sogar nach dem Tode Josephs des Zweiten abschlägig beschieden worden.
Der Herr Vater gab keine Antwort.
Und Gotthardus sinnierte. Zunächst nicht über den Knaben oder den Vater Andreas Stralz, sondern über die Pflicht, welche ihn dringlich nach Grätz beordnete. Gleichsam als bleierner Alp lastete auf ihm das Gefühl der Verantwortung. Und er wußte genau, wie er, Schuld auf Schuld häufend, das Vermögen der Abtei verwirtschaftete, und wie in den Tagen stumpfer Gärung und allgemeinen Zerfalles seine Fähigkeiten förmlich schlaff wurden … Die südsteirischen Weingärten, die Wälder an Enns und Mur waren verpfändet, teilweise sogar verkauft, Hämmer und Herrschaften hintangegeben. Und schwere Summen an Geld und Geldeswert in vaterländischen Diensten verbraucht: nenne nur die Tatsach, daß man 1600 französischen Häftlingen zu Strechau und Röthelstein Kost wie Quartier angewiesen hatte, ferner ein Darlehen von 10 000 Gulden verlangte und bei der Repunzierung des Silbers 2500 fl. einzog, nicht zu vergessen der Brandschäden und Kontributionen, welche oft schonungslos auf Rechnung der Abtei gingen. Krankheit und Hunger untergruben die Ordnung bei Konventual wie Laien. Das Vieh reckte in Seuchen dahin, und die in Abhängigkeit vom Stifte lebenden Pfründner jammerten ihn durch ihre Armut. Gotthard war nicht der umsichtige Mann, aller dieser Obliegenheiten, Sorgen und Mängel Herr zu werden. Mit lebhaftem Temperamente und feinen Nerven begabt, so sich entweder verschwenden oder zum Zweck der Selbstschonung krankhaft verschließen, hätte er dem Studium, der Kunst oder Beschaulichkeit trefflich dienen können. Vielleicht, so sagte er sich in Gedanken, vielleicht hatte sein Weg in die Irre geführt … hatte Gott sich ihm verweigert …
Wo war die Zeit … als er, kaum dem Jünglingsalter entreift, zu San Callisto in Rom predigte und im Disput mit sechs Kardinälen das Kirchenrecht verfocht. Da hatte Pius der Sechste nach der Priestersalbung Gotthardus mit geistlichem Machtspruch halten wollen. Und ihm die Wahl geheißen zwischen den Lehrstühlen von Neapel und Florenz. Und mehr denn einen gab’s unter Klerikern wie Höflingen, der, sich bückend, Inful und Krummstab prophezeite … oder gar die römische Tiara.
Er aber ist in der Kutte Sancti Benedicti heimzu nach Admont gepilgert, mit groß entzückter Selbstentäußerung, welche seines Glaubens heiligte und den Menschen in ihm völlig ertöten sollt.
Ach, itzt nach dreißig Jahren wußte er’s: das war erst der Anfang gewesen. Gott hatte ihm gezeigt, daß jene, welche die Ehre und Eitelkeit verachten und fliehen, im Kreise zu ihr zurückgetrieben werden, damit sie, was schwer ist, unter vielen einsam blieben und durch Auszeichnung gedemütigt und durch ihre Kräfte versucht seien. Gott zeigte ihm, der sich einstmalen in der Stille seines Herzens gebrüstet, er wölle nicht Papst, sondern ein armer Mönch sein, Gott zeigte ihm, daß er unfähig war auch der Würde eines Abtes und aller geschäftlichen Observanz und Verwaltung, welche die bischöfliche Herrschaft zu Sekkau alias Grätz mit Recht verlangte.
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